Er lebt

Eine Erzählung von Martin Hatzius

  • Lesedauer: 9 Min.
Er lebt

Hochhäuser gibt es nicht. Hier gibt es keine geschäftstüchtigen Manager, keine dunkelhäutigen Sekretärinnen, kein touristisches Sprachengewirr. Kein nervös aufheulendes und rasch wieder abschwellendes Geheul von Polizeisirenen in Schluchten aus Glas und Stahl. Nichts an dem Flecken Welt, wo Alexander am 11. September 2001 von der Katastrophe erfuhr, gleicht Lower Manhattan. Gar nichts.

Hellersdorf ist eine Berliner Vorstadt, die auf widerborstigem Ackerboden ruht. Zwischen dem Beton, der von sächsischen Brigaden kurz vor dem Ende der DDR verbaut worden ist, brechen unkrautbewucherte Brachen hervor; wie Beulen, Symptome einer Erbkrankheit aus den Zeiten der Landwirtschaft. Zwischen den Gehwegplatten sprießt Gras und irgendwo dämmert ein Weiher. Hier hatte Alexander gelernt zu leben und später vergessen, wie das geht. Zehn Fahrradminuten entfernt steht sein Elternhaus. Gleich neben der U-Bahn-Trasse, die aus Berlins Mitte ganz nach Osten führt und hier zu ebener Erde verläuft, klotzt das kleine Kino, in dem er damals noch arbeitete, obwohl er längst woanders wohnte. Kino, Kneipe, Jugendclub, Bühne. Alles und nichts. Alexander hatte viele Nächte hier verbracht, als Gast, und später, als er dafür ein paar Mark bekam, auch etliche Tage.

Das Kino: ein schmuckloser Flachbau, einsamer Vorposten immergleicher Sechsgeschosser. Obgleich damals erst fünfzehn Jahre alt, war in diese starren Quader schon längst keine quirlige Familie mehr eingezogen. Frisch gestrichen und traurig, buhlten die frühverrenteten Wohnblöcke darum, geliebt zu werden wie früher. Tag um Tag harrten sie aus und ersehnten, dass irgendetwas passiert. Es passierte nichts.

Was an diesem Nachmittag passiert ist, passierte auf einer Leinwand, die man wie ein Schnapprollo in einem weißen Kunststoffkasten verschwinden lassen kann.

Eine zwei Quadratmeter große Leinwand, die von der Decke des Kinofoyers in den Raum hinab hing – davor der kleine Saal und der schwarz lackierte Tresen, dahinter die Konzertbühne, auf der am Wochenende Schülerbands und, ab und zu, klein gewordene Ostrockgrößen spielten. Als Alexander an jenem Septembernachmittag kurz vor 15 Uhr die Tür aufstieß, war kein Besucher da. Auf den Bodenkacheln standen die paar Kollegen, die an einem Dienstag um diese Zeit hier sein mussten, vor der Leinwand: Dieter, der emsige Zivi, den es grämte, dass die Stammgäste ihn Dimitri riefen, weil er mit seinen Eltern aus Kasachstan gekommen war. Mirko, der muskulöse Filmvorführer aus dem Viertel, an dessen Hals eine wulstige Narbe davon kündete, dass er Straßenkämpfe und Messerstiche nicht nur aus den Filmen kannte, die er so liebte. Theo, der Leiter, die dicke Nadine vom Café, ein, zwei andere noch.

Den Beamer hatten sie vor ein paar Wochen erst gekauft. Jetzt warf er diese Bilder aus New York auf die Wand, fast live. Ein Flugzeug kracht in einen Wolkenkratzer. Ein spektakulärer Unfall, weit weg.

Eigentlich gehörte Alexander nicht mehr hierher. Gerade hatte er zu Ende studiert und seine erste eigene Wohnung, ein enges Loch im zweiten Hinterhof, schon wieder aufgegeben. Nun schrieb er Bewerbung um Bewerbung und fischte alle paar Wochen ein Ablehnungsschreiben aus dem zerbeulten Briefkasten im Hausflur des Altbaus, in den er mit seiner schwangeren Freundin gezogen war. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als endlich von der Stelle zu kommen. Er war fünfundzwanzig, kein Kind mehr.

Als Alexander aufhörte, Kind zu sein, war die Zeit festgefroren, über Nacht, obwohl sie eben noch gerast war wie nie zuvor in seinem Leben. Damals, da alles in Aufruhr geriet, was ihn etwas anging, hatte er in ein paar Wochen gierig den ganzen Zukunftshunger gestillt, der für ein Gelage von zehn Jahren Jugend reichen sollte. Seit jenem Wendeherbst war Alexander nicht mehr gewachsen. Und jetzt, 2001, zwölf Jahre später? War er ein bärtiger Spund geworden. Ein Dornröschen im Dämmerschlaf, nicht tot, nicht lebendig. Ein greiser Neubau in Pastell. Nichts, was draußen vor sich ging, riss ihn mit, so sehr er das ersehnte. Er strampelte wie ein Frosch im Milchglas, aber der Butterboden trug ihn nicht. Alexander kam nicht raus aus diesem Glas.

Die zwanzig Stunden, die er immer noch Woche für Woche nach Hellersdorf zurückkehrte, um Agenturen und Künstler anzurufen, Termine abzustimmen, Verträge zu schließen, Abläufe zu organisieren und manchmal nachts halb vier Bierlachen und Zigarettenstummel von den Fliesen zu wischen, waren nichts als ein Alibi. Wenn er gefragt worden wäre, wo er zur Tatzeit gewesen sei, hätte er antworten können: uff Arbeit. Die Kollegen hätten es bezeugt. Nur bohrte sich der Gedanke immer tiefer in sein Hirn, dass die Tat, die er fortwährend nicht beging, sein eigenes Leben war.

Alexander stand vor der Leinwand, als das zweite Flugzeug in den anderen Turm raste. Er stand, es raste, und mit dem Aufprall hörte die Katastrophe auf, Unfall zu sein. Er stand noch eine Weile so da, und während sich das Unbegreifliche Wiederholung um Wiederholung in seine Netzhaut brannte, sickerte ein Wort wie durch ein Sieb in Alexanders Schädel: Krieg. Er kannte das Wort aus Romanen und Geschichtsbüchern, ein großes Wort war das immer gewesen, aber eins, das von ferne raunt. Jetzt war es ganz nah, gleich hinter der Stirn, und hörte nicht auf, dort zu hämmern.

Alexander zog sich zurück ins winzige Büro, als sei das ein Bunker. Er schaltete den Computer und das Radio ein und versuchte zu tun, was er immer hier tat. Es war kein Flugzeug ins Kino gekracht, nur in die Leinwand. Seine Finger hackten tumb auf die Tasten, in seinem Kopf aber pochte das Wort: K-r-i-e-g. Auf der Leinwand vor der Bürotür starben Menschen. Der erste Turm stürzte ein. Leute liefen um ihr Leben, die gigantische Staubwolke im Nacken. Der zweite Turm wankte. Das Pentagon brannte inzwischen auch.

Nichts hatte das mit ihm zu tun.

Sein Vater rief an, mit zitternder Stimme, es sei etwas passiert. Alexander sagte: Ich weiß. Aber er wusste nichts. Sein Vater stand nicht vor dem Bildschirm, er stand auf der Straße vor einem Trümmerhaufen. Zersplitterter Kunststoff, stinkender Gummi, geborstene Scheiben, sagte er. Im Telefonhörer heulte ein Martinshorn auf, wurde lauter, verschwand. Ob er kommen könne?

Theo drückte Alexander den Schlüssel des zerbeulten Kleinbusses in die Hand, mit dem er sonst Plakate und Lautsprecherboxen transportierte, fahr vorsichtig! Alexander raste durch die Stadt, obwohl er wusste, dass niemand zu Schaden gekommen war. Als er die Charité erreichte, sah er seinen Vater am Straßenrand vor dem himmelblauen Schrottberg stehen, der morgens noch sein Auto gewesen war. »Ein Idiot«, Stuttgarter Kennzeichen, hatte mit seinem Jeep die Kurve nicht gekriegt, überhöhte Geschwindigkeit, nicht zugelassene Sportreifen, und war mit voller Wucht in den alten Trabbi geknallt, der dort geparkt war. Ein Unfall, kein Anschlag. Kein Krieg, ein Ärgernis.

Vater und Sohn holten die Sachen, die zu retten waren, aus dem Wrack und luden sie in den rostigen Bus. Dann fuhren sie mit dem Krankenhausfahrstuhl hoch in die Station, in der Alexanders Mutter lag. Der Vater hatte sie besucht und sich bemüht, sie zu trösten, während die Flugzeuge ins World Trade Center und der Jeep in seinen Trabant gekracht waren. Der Krebs war im Frühjahr bei ihr entdeckt worden, kurz nachdem ihre eigene Mutter daran gestorben war. Seitdem war im Leben von Alexanders Mutter nichts mehr so, wie es gewesen war. Und es sollte nie wieder so werden. Der Unfall interessierte sie nicht. Der Anschlag noch weniger. Das Geschwür war entfernt, aber sie litt wie ein geprügelter Hund. Man habe ihr bei der OP die Nervenbahnen durchtrennt, wisperte sie immer wieder. Wen der Schmerz im Inneren zerreißt, der hat keinen Blick für die Welt vor dem Fenster.

Aus den oberen Etagen des Charité-Hochhauses sieht man auf Berlin wie aus einer Boeing, die im Sinkflug plötzlich erstarrt ist. Alexander hing in der Luft, und er wusste in dieser Sekunde, dass es nur zwei Möglichkeiten gab, das Standbild aufzulösen: Landung oder Aufprall. Nur wer der Pilot war, das wusste er nicht.

Der 11. September 2001 hat Alexanders Leben verändert, wie der Herbst 1989 das Schicksal der Hellersdorfer Sechsgeschosser besiegelt hat: mittelbar, aber unwiderruflich. Alexander ist an diesem Tag nicht verbrannt, erstickt, zerquetscht worden und nicht aus Dutzenden Metern in den Tod gestürzt. Er hat niemanden verloren, den er kannte und liebte. Seine Uhr hörte nicht auf zu schlagen, nein: Sie fing wieder an damit. Dass gar nichts vorbei war, lehrte ihn dieser Tag. Es ging gerade erst los, sein Jahrhundert. Er lebt.


Und wir?

Der 11. September 2001 hat die Welt verändert, wer wollte das bestreiten? Anschläge auf westliche Metropolen und der »Krieg gegen den Terror« erschüttern die geopolitische Lage. Mit flächendeckender Überwachung und intensiven Sicherheitsvorkehrungen begegnen Staaten abstrakten und konkreten Gefahren, die vorher so nicht zu existieren schienen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise erschüttert ein ganzes System, das sich siegessicher wähnte ...

Aber was hat jener 11. September mit den Menschen gemacht, die fernab der Schlachtfelder von Politik, Militär und Märkten ihr Leben leben? Wie hat er deren Alltag verändert, wie ihre Selbstbestimmung als Mosaiksteinchen im von niemandem überschaubaren Gesamtgefüge beeinflusst? Auf solche Fragen mag es so viele Antworten geben, wie es Menschen gibt. Die Autoren dieser Seite nehmen den weltverändernden Terroranschlag und seinen Einfluss auf »unbeteiligte« Individuen mit literarischen Mitteln ins Visier. ND


Matthias Kröner: Das Gedicht, das sich zwischen die Stühle setzt und auf den Boden knallt

Für Diejenigen
Die einen waren glücklich,
weil sie endlich von sich selbst abgelenkt wurden und etwa lesen durften,
der Selbsterhaltungstrieb zwang sie zu dieser Handlung,
sie kauften sich die Süddeutsche und die Zürcher und von mir aus die FAZ,
fürchteten sich vor einem Dritten Weltkrieg,
sie sind auch noch heute so und können auch heute nicht viel dafür.

Die anderen waren betroffen, am Ende, totally destroyed, ground zero,
sie fanden keine passenden Sätze, aßen ein Wiener Schnitzel,
sie suchten nicht lang nach Worten, sie gruben in ihren Gehirnwindungen
nach Gefühlen und trafen keinen Gedanken an,
manche tranken ein kleines Pils dazu.

Diejenigen, die übrig blieben, weil sie wieder mal aus der Reihe fielen,
kümmerten sich einen Dreck darum.

Sie taten, was sie seit Jahren tun,
sie arbeiteten und spielten mit ihren Kindern.

Wenn es nicht absolut unmenschlich wäre,
würde ich ihnen gerne dieses Gedicht vermachen.


Martin Hatzius, geboren 1976 in Berlin, ist Feuilleton-Redakteur dieser Zeitung.
Matthias Kröner, 1977 in Nürnberg geboren, Autor, Journalist, Werbetexter und Lektor, lebt in Lübeck. Für seine Lyrik und Prosa ist er mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet worden.

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