Prenzlberger Puppenstube

Das Ballhaus Ost zeigt Flauberts »Madame Bovary« als Volkstheater für Bürger

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Glotze als Erlebnisersatz
Die Glotze als Erlebnisersatz

Die einen zünden aus bizarren Motiven Kinderwagen an. Aber auch diejenigen, denen solche verkohlten Kinderwagen gehören mögen, sind nicht unbedingt glücklich. Zu dieser Lesart verleitet jedenfalls die auf Wohlstandsrealitäten in Prenzlauer Berg getrimmte Theaterversion des Flaubertschen Kleinstadtklassikers »Madame Bovary« am Ballhaus Ost.

In Christian Weises Inszenierung (Theaterfassung gemeinsam mit Daniela Dröscher) tauchen die ortsüblichen Hausgeburten, die ritualisierten und bereits von Neid durchfressenen Nachbarschaftsfeste sowie mit irrsinniger Konsequenz exekutierte Beziehungskrisen auf. Besonders Cornelius Schwalm und Verena Unbehaun legen als den Bovarys befeind-freundetes Apothekerpaar nur wenig überzeichnete Figuren aus der unmittelbaren Umgebung aufs Parkett. Letzteres stellt sich als mit tropischen Blumenmotiven schwülstig erhitzte Puppenstubenarchitektur dar, die von Bühnenbildnerin Constanze Kümmel in das alte Ballhaus gewuchtet wurde.

Der Regisseur, ein Randprenzlberger mit einschlägiger Milieuerfahrung, legt jedenfalls Wert auf die Feststellung, aus dem realen Leben gegriffen zu haben. Er verdichtet diese Realitätskopien zu einer Art Revue, die grob dem erzählerischen Spannungsbogen der Flaubertschen Vorlage folgt und durch treffliche Gesangseinlagen des Deutsch-Argentiniers Sebastian Arranz (begleitet von Jens Dohle) rhythmisch unterbrochen wird. Arranz spielt als Verkörperung des einschlägigen Latin Lovers auch den Emma-Geliebten Rodolphe. Der befleißigt sich einer Variation der Musikrichtung Cumbia, die ursprünglich aus Kolumbien stammt, längst Argentinien erobert hat und mittlerweile in Europa als letzter Schrei gilt. Zuweilen mischt er dem eine Prise Hip-Hop bei. Das passt, das groovt, das verleiht dem Spiel Dynamik.

Ein schöner Einfall besteht auch darin, die ursprüngliche Romanleserin Emma nun vor dem Fernseher zu platzieren und sie geborgte Gefühle aus Kitschfilmen intensiver ausagieren zu lassen als die Emotionen, die das eigene Leben produziert. Richtige Flügel bekommt dieses Spiel allerdings erst dann verliehen, wenn Emma-Darstellerin Inga Busch die romantisch-schmachtende Version der Apothekersfrau hinter sich lassen darf, und zu einem die Ekstasen der Liebe, des Shoppings und der – wenn nichts anderes mehr bleibt – Wohltätigkeit durchtobenden Menschenwesen wird. Dann offenbaren sich diese Tätigkeiten nicht nur als eine Flucht aus dem Gefängnis des wohlanständig zusammengezimmerten Lebens. Es bereitet auch Vergnügen, diesen Ausbruchsversuchen zuschauen zu dürfen.

Weil die Freude und die Lacher im Zuschauerraum proportional zur Nähe zwischen eigener Lebenssituation und jener auf der Bühne zuzunehmen scheinen, entwickelt sich im Ballhaus ein wahrer Hurrikan der selbstbezüglichen Ironie. Weise hat tatsächlich so etwas wie Prenzlberger Volkstheater entworfen.

Daran tut auch keinen Abbruch, dass einst am Fuße des Berges, in der Volksbühne, solcherart Bürgerlichkeitsanamnesen schriller, wilder und existenzieller vollführt wurden – man denke etwa an »Endstation Sehnsucht« oder »Forever Young«. Konnte man dort bequem von einer sich überlegen wähnenden ideologischen Position auf das Treiben und Verzweifeln der Bürger blicken, so entwickelt Weise dies aus der Mitte eben dieser Bürger heraus.

Das verdient Anerkennung – und es birgt durchaus Kultpotenzial. Nachdem der Wedding seine Theatersoap im Primetime Theater hat, Neukölln seinen Heimathafen, Friedrichshain das archaisch-anarchische Unterschichtentheater in der Theaterkapelle und sich in Kreuzberg die Vierte Welt entwickelt, besitzt nun auch der Gentrifizierungsstadtteil par excellence am östlichen Rande des Zentrums seine theatrale Selbstbespiegelungsarchitektur. Dieser »Emma Bovary« sei ein langes Leben beschieden.

Ballhaus Ost, Pappelallee 14.-17.9., 20 Uhr, Informationen unter (030) 44 04 92 50

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -