Die Welt, unsere Irrenanstalt
Berlins »Spielzeit Europa«: Theater aus Tunesien
Die Leser dieser Theaterkritik werden vielleicht enttäuscht sein: Sie werden das wuchtige Stück, mit dem »Spielzeit Europa« kürzlich ihre Saison im »Haus der Berliner Festspiele« eröffnete, nicht mehr sehen können – es war ein Unikat. Aber was für eines! Wenn der Begriff »politisches Theater« eines neuen Impulses, einer aufrüttelnden Form der virtuellen Anteilnahme an den großen Erschütterungen bedarf, die derzeit durch die Weltgesellschaft geht und im »Arabischen Frühling« Wirklichkeit sind, dann geschah das hier mit einem Stück aus der unmittelbaren Vorgeschichte – der tunesischen Revolution, mit der das alles anfing: »Yahia Yaich Amnesia«. Wenn das Spiel damit beginnt, dass im noch hellen Saal zunächst ganz unbemerkt wie aus dem Nichts streng und gut gekleidete Damen und Herren in schwarz an den Seitenwänden stehen, sich ganz langsam, aber mit prüfendem Blick auf das Publikum, in Richtung Bühne bewegen, da kommt so etwas wie ein Gefühl für Angst auf: Wir werden beobachtet, wir sind gefangen in einem geschlossenen Raum ...
Aus den betont sorgfältig gekleideten Damen und Herren – es kann sich da nur um Geheimpolizisten handeln – werden auf der Bühne gestisch mit absurden Körperbewegungen agierende Menschen: Jetzt sind es allem Anschein nach Insassen einer Irrenanstalt. Was sich da abspielt, lässt den Atem stocken – dann plötzlich bricht ein buchstäblich ohrenbetäubender Lärm von Schüssen aller Kaliber los (das Publikum war zuvor gewarnt worden), die Menschen torkeln, fallen zu Boden, versuchen zu fliehen, es gelingt ihnen nicht, ein Massaker ...
Das tunesische Autorenehepaar Jalila Baccar und Fadhel Jaibi hatte ein brillante Dramaturgie erfunden: Ein Diktator war in einem Staatsstreich entmachtet und »zu seiner eigenen Sicherheit« in die Psychiatrie verbannt worden, was ihm aber wie eine Traumwelt vorkommt, die er nicht versteht. Geredet wird leere Alltagssprache, die Insassen erkennen und beschimpfen ihn – er verteidigt sich – aber die Worte klingen aus seinem Mund ebenso faul, verlogen, in ihr Gegenteil verkehrt wie das Wort seiner anklagenden Kritiker.
Die verwandeln sich in weißgekleidete Ärzte und erklären ebenso dem Ex-Diktator wie den anderen Insassen deren Krankheit, was die natürlich nicht verstehen – es wird in einem rauen Schreisprech aneinander vorbeigebrüllt (die Sprache ist arabisch, französisch, aber mit deutschen Übertiteln) – die Atmosphäre wird immer beklemmender. Großes, absurdes Theater.
Was uns bis an die Schmerzgrenze miterlebbar vorgeführt wird, ist eine total vergiftete, zerstörte Gesellschaft, ohne Ausweg – und das Ganze in einer ästhetischen Bewegungs- und Körpersprache, die sich der konventionellen Bühnen- oder Literatur- bzw. der Sprache der Dichtung für das, was uns hier mitgeteilt werden soll, als überlegen erweist.
Der »Spielzeit Europa« kann man nur wünschen, dass ihr politisch engagiertes Programm in den nächsten Monaten die Versprechen einlöst, die mit diesem außergewöhnlichen Stück gemacht wurden. Das Motto der Saison heißt: »Veränderbare Welten« – was könnte für eine politische Perspektive wünschenswerter sein?
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