Immer noch Sturm!
Peter Handke am Thalia Hamburg
Es ist vielleicht Dimiter Gotscheffs Meisterwerk. So ergreifend verschmolzen: das Lebendige mit dem Gleichnis, der leerstellenfreie Geist eines Textes mit durchbluteter Erzählung, der Schrei des Zorns mit der Feier der Lust. Lust aneinander, füreinander; Zorn auf alles, was Menschen politisch voneinander weg treibt, sie geschichtlich gegeneinander hetzt.
»Immer noch Sturm« ist auch ein Theater-Meisterwerk Peter Handkes, von Gotscheff (Bühne: Katrin Brack) für die Salzburger Festspiele inszeniert (ND vom 27. August); nun
war deutsche Erstaufführung am Hamburger Thalia Theater. Handke lässt einem Erzähler die toten Vorfahren erscheinen, und mit ihnen scheint auf: die Geschichte der Kärntner Slowenen, ihr Existenzkampf im 20. Jahrhundert, ihr ewig leidvoller Kampf mit den Deutschen, Widerstand und Tragödie bis heute. »Geschichtääää!«, so spuckt es Jens Harzer als Erzähler aus. Da ist der Abend unterm Dauerrieseln grüner Blätter schon über vier Stunden lang – lang?, nein, stark, erschütternd; belebend für Trauer und Tat. Trauer um Ursprünge, und was wäre die Tat? Mit den Verlierern fühlen; durchdrungen sein vom Adel der Geringen; sich herzhaft blamieren durch Schüchternheit und Ungelenkbleiben, wenn die allzu Geschmeidigen aufspielen, nämlich sich selber. Theater als expressiver Kanon, als berührende Predigt; hier ist ein jeder ganz Kontur, aber niemand eigenmächtig; es gibt keine Ruhe vor dauernd drängenden Fragen, aber in den Fragen kommt doch jeder zu einer nicht beschreibbaren Ruhe: Was erzählt wird, stirbt nicht.
Und möge sich im faden kapitalen Gegenwartsschwelgen niemand vor Vergangenheiten geschützt wähnen: Immer noch Sturm! Immer noch Sturm! Minderheit, hier klingt's wahrhaft wie Menschheit. Und nach Wehr gegen den satten Sieger Westen. Der Erzähler erinnert an Indianer in Alaska, sie sitzen wie letzte Steine zwischen Touristenströmen, vereinzelt, stumm, nur ab und zu stehen sie auf, winken einander zu: Ich bin noch da! – Ich auch! Setzen sich wieder. Schönes Widersetzen. Die Hoffnung der Welt ist das Volk der schweren Kinder, wie in Grimms Märchen: nicht verpflanzbar, nicht abzuweisen, nicht zu besiegen. In keinem Grab der Zeit zur Stillegung zu bewegen.
Ein tolles Ensembles als Familie – wo man das Eigene flieht und das Fremde sucht, wo man drinnen erstickt und draußen erfriert. Immer bleibt der Elendsverband feste Burg. Jens Harzer: der Ich-Erzähler und Herbeiträumer des Ganzen: faszinierend, wie er Handkes Text auf fliegendem, flatterndem, flehendem Atem erfindet. Gabriela Maria Schmeide als Großmutter: Das Weiche stampft, das Gegerbte ist ganz Zartheit. Matthias Leja als Großvater: Bestimmergestus, der ins rührend Komische rutscht, und verholzte bäurische Geradlinigkeit. Als Geschwister: Hans Löw (charmant zynisch), Tilo Werner (der Schmächtigste in grausamster Partisanenprüfung), Heiko Raulin (naiv direkt), Oda Thormeyer (in schwerer Zeit so unzeitgemäß lebenslustig, also noch im heitersten Lächeln: tiefverstört). Und die Gänsehaut erzeugende Bibiana Beglau: unter den Geschwistern die Ausgestoßene, Verkrampfte, Illusionslose – klirrender als ein einsamer Mensch kann niemand von Liebe erzählen. Sandy Lopicic, Matthias Loibner: tief im Bühnendunkel zwei Musiker – und Musik, die weint und wütet; wild und weh.
Handkes slowenische Ader, Gotscheffs balkanischer Herzgrund: Es ist, als träfe Sophokles' streng chorische Archaik auf Tschechows wund versprengte Seelen. Groß!
Nächste Vorstellung: 24. September
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