Altenheim? Nein danke!
Dementen-WG, Alt-Jung-Wohnen – Hamburg bietet zahlreiche Alternativen zum Alten- und Pflegeheim
»Wie wird das bloß werden, ohne den geliebten lauschigen Garten, das Haus, in dem die Kinder groß geworden sind, die schönen Räume, der viele Platz…?« Häufig beschlichen das Lehrer-Ehepaar Gisela Breyer-Zeller (69) und Diethelm Zeller (68) in der letzten Planungsphase des Alt-Jung-Projekts am Sodenkamp im Hamburger Stadtteil Klein-Borstel leise Zweifel. Lohnt es sich, all das und die vertraute Umgebung aufzugeben – für ein Leben im Wohnprojekt?
Das Ehepaar plante seit 1995 zusammen mit anderen Interessierten. Einige sprangen ab, neue kamen dazu. Vorbild waren Wohnprojekte der Grauen Panther in Dänemark – »zentral war der Gemeinschaftsgedanke«, betonen die Zellers, die 2009 »fast als letzte« einzogen und gleich »die Bude voll hatten«. Die Pensionäre bezogen eine von 12 Eigentumswohnungen. 32 Parteien wohnen zur Miete, davon 10 in sozial gefördertem Wohnungsbau. Heute leben im Projekt 60 Erwachsene, davon 11 im Rentenalter, und 20 Kinder. Eine starke Gruppe bilden »die Luzies«, eine Lesbengemeinschaft im Alter von 32 bis 72 Jahren.
An diesem sonnigen Tag werkelt Gisela Breyer-Zeller im kleinen Garten, der zur 128 Quadratmeter großen Wohnung gehört. Sie pflanzt einen Busch. Ihr Mann sitzt im mit Büchern vollgestopften Wohnzimmer, lauscht dem Kinderlärm, der sich um das Haus legt und sinniert: »Wir sind hierher gezogen, weil wir in unserem Einzelhaus nicht in Isolation versinken und immer weniger Außenkontakte haben wollten.« Soweit es sich schon jetzt sagen lässt, hat das funktioniert. Die Pensionäre haben »Fäden gesponnen«, Netzwerke sind entstanden.
Wie bestellt, klingelt es an der Tür. Nachbar Gunnar Pudlatz (40) kommt zu Besuch. Der Buchbinder wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern auf 85 Quadratmetern zur Miete. Er hat eine seiner Töchter dabei, auf die Zeller gelegentlich aufpasst. »Aber keiner wird zu etwas gezwungen. Wenn ich mal nicht den Onkel oder Ersatzopa spielen will, sage ich auch mal nein.« Zeller nimmt noch viele »Außenaufgaben« wahr, »deshalb passt das nicht immer«.
Auch Hamburgs Stadtentwicklungssenatorin Jutta Blankau (56) könnte sich vorstellen, später »mit vielen Menschen zusammenzuleben – nicht in einer Wohnung, sondern gemeinsam mit verschiedenen Generationen in einem Haus.« Das sei ein spannendes Modell. »In meinem Alter schiebt man das aber immer noch ein bisschen vor sich her«, sagt die Politikerin: »Interessant finde ich Überlegungen von Genossenschaften, gemeinschaftliches Wohnen beispielsweise von Behinderten, Senioren und Familien zu organisieren. Ich glaube, dass alternative Wohnkonzepte Modelle mit Charme und Zukunftsfähigkeit sind. So kann man Stadt positiv verändern.«
Buchbinder Pudlatz ist durch Freunde auf das Projekt aufmerksam geworden: »Am Anfang fand ich es noch etwas befremdlich, heute empfinde ich es als sehr reizvoll, mich hier einzubringen.« Dazu gehören die Plena, die alle zwei Wochen stattfinden und kleinere Aufgaben, die jeder in der Gemeinschaft übernehmen muss. »Es gibt zwar eine gewisse soziale Kontrolle, Listen werden aber nicht geführt«, sagt Pudlatz, der mit seiner Familie in einer der zehn über Paragraf-5-Schein vergebenen Wohnungen lebt. Die Miete für die Wohnung, die der Genossenschaft der Buchdrucker gehört, ist mit 600 Euro warm erschwinglich. Die anderen Mieter bezahlen für ihre nicht-geförderten Wohnungen elf Euro pro Quadratmeter kalt.
Ob Mieter oder Eigentümer – das kollektive Leben der bunten Gemeinschaft spielt sich im Sommer im Innenhof ab. Dort trifft man sich, schnackt miteinander. »Ein Gang zum Mülleimer kann sich lang hinziehen«, scherzt Zeller. Auf die Spezies einer gesellschaftlichen Gruppe trifft er dabei nicht: alleinstehende Männer. »Die wohnen hier nicht«, so Zeller. Die wenigen, die sich für das Projekt interessiert haben, sind schnell abgesprungen. »Das war denen zu eng, zu viel Nähe«, durch die Anforderungen an Kommunikation und Mitarbeit fühlten die sich überfordert«, sagt Zeller und setzt noch einen drauf: »Frauen sind generell sozialere Wesen.«
Auch die Zusammensetzung der generationenübergreifend Wohnenden spricht Bände. Im sozialen Bereich Tätige und helfende Berufe sind deutlich überrepräsentiert, Pudlatz ist der einzige Handwerker. »Hier wohnt nicht der Querschnitt der Bevölkerung, auch das Bildungsniveau ist überdurchschnittlich«, betont Zeller. Und erläutert auch die politische Landschaft im Projekt: »CDU- und FDP-Wähler haben wir hier gar nicht, »die interessieren sich für so was nicht.« Pudlatz, fügt trocken hinzu: »Ich glaub', ihr seid hier die Radikalsten.« Alle lachen.
Zum Schluss des Treffens wird es noch einmal ernst. Momentan sei alles wunderbar, meint Zeller, »wenn wir aber Pflegefälle werden, ist auch solch ein Projekt überfordert.« Da nützt es auch nicht, dass die Dusche barrierefrei und die Wohnung altengerecht ist, was heute in höchstens zwei Prozent der 40 Millionen Wohneinheiten in Deutschland der Fall ist. Nach einer Studie des Eduard-Pestel-Instituts in Hannover werden die zehn Millionen Menschen über 70 im Jahr 2025 rund zwei Millionen alten- und behindertengerechte Wohnungen nachfragen. »Nicht nur die zur Zeit viel diskutierte energetische Sanierung der Wohnhäuser hat Vorrang«, warnt Dr. Eckard Pahlke, Vorsitzender des Mieterverein zu Hamburg, »die demografische Altersentwicklung und das Streben vieler Mitbürger, in der eigenen Wohnung alt zu werden, erfordern dringend den Neu- oder Umbau von barrierefreien Wohnungen«. Jährlich müssten 100 000 seniorengerechte Wohnungen entstehen.
Die Zahl der über 80-Jährigen, wird bis 2030 von 4,1 auf 6,3 Millionen Menschen steigen. Immer mehr Senioren werden pflegebedürftig. Viele werden – trotz der verstärkten Betreuung durch mobile Dienste in der eigenen Wohnung – diese irgendwann aufgeben müssen. Dann heißt die Alternative meist: Alten- oder Pflegeheim.
Genau das wollten Christine Menzel und ihre acht Geschwister ihrem dementen Vater Klaus (84) ersparen. Seit 15 Jahren leidet der frühere leitende Angestellte in der Versicherungsbranche an Durchblutungsstörungen. Die Ausfälle wurden immer stärker. Er musste Medikamente nehmen, irgendwann funktionierte das Autofahren nicht mehr, bald fand er sich zuhause nicht mehr zurecht. Er zog zu Tochter Christine. Im Alter von 77 Jahren kam der Vater in die Tagespflege. Erst einen Tag pro Woche, zum Schluss sechs Tage. Christine Menzel spricht offen über die »nervigen Aspekte« der Demenz wie »ständige Wiederholungen«. Bald musste sie auch die Körperpflege übernehmen.
Schließlich beriet sie sich mit ihren Geschwistern, wie es weitergehen sollte. Die Kinder kamen zu dem Schluss: »Vater soll auf keinen Fall ins Heim.« Menzel nahm 2006 Kontakt zur Hamburger Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften auf, hörte von dem Projekt, das sich in St. Georg im Aufbau befand. Das Pauline-Mariannen-Stift in der Brennerstraße erfüllte ihre Vorstellungen: Jeder hat sein eigenes Zimmer, Gemeinschaft wird groß geschrieben. »Das isses!«, befand Menzel. Heute leben in der Wohngemeinschaft sieben Demente im Alter von 68 bis 90 Jahren. Vermieter ist die Amalie-Sieveking-Stiftung.
Jeden Donnerstag geht's zum Markt an der Langen Reihe. Christine Menzel überprüft, ob ihr Vater sicher im Rollstuhl sitzt. »Brauchen wir die Decke für die Beine?«, fragt die studentische Hilfskraft Patrick Hollstein. »Nein, ist warm genug heute«, antwortet Menzel. Dann steuert der sechsköpfige Tross den Fahrstuhl an – eine Angehörige, ein Student, eine Pflegerin und drei WG-Mitglieder im Rollstuhl. Die Tour zum Mark ist eine willkommene Abwechslung für die Alten, die das Treiben auf den Straßen und an den Marktständen neugierig beobachten.
Diese WG ist keine Verwahranstalt für Alte – wie es konventionelle Einrichtungen oft sind, sondern Ort des Miteinanders, an dem die Bedürfnisse und Wünsche der Bewohner respektiert werden. »Jeder steht auf, wann er will«, erzählt Menzel, »geweckt wird keiner«. Klaus zum Beispiel schläft gern bis 12 Uhr, trinkt dann einen Cappuccino am Bett. So streckt sich das Frühstück oft über den Vormittag. Mittag essen alle zusammen. Den Betrieb hält der von den Angehörigen beauftragte Pflegedienst am Laufen. Je zwei Kräfte sind vormittags und nachmittags im Einsatz. Dazu kommt eine Zwei-Euro-Kraft und ein Praktikant.
Nachmittags sind Termine angesagt: Ergotheraphie, Sport im Sitzen, Musiktherapie, Krankengymnastik, Angehörige und Betreuer kommen zweimal wöchentlich zu Besuch. Mal wird gebastelt, spazieren gegangen. Und jede Woche kommt der Kaninchenzüchterverein mit vier bis fünf Tieren, die frei herumhoppeln: »Dann ist Streicheln angesagt, jeder hat ein Möhrchen in der Hand«, erzählt Christine Menzel. Die meisten gehen zwischen 19 und 21 Uhr ins Bett. Nur eine alte Dame ist eine richtige Nachteule. Bei ihr kann es deutlich später werden.
Klaus hat sich schnell in die WG eingewöhnt. »Die Gemeinschaft tat ihm gut«, sagt Christine Menzel, »mein Vater war immer ein geselliger Mensch.« Ein Pflegeteam mit konstanter Besetzung, eine ausreichend große Wohnung, Gemeinschaftsräume und die Ausstattung der privaten Zimmer mit eigenem Mobiliar – wie in einer klassischen WG – sind neben der individuell abgestimmten Betreuung der einzelnen Bewohner das Geheimnis der angenehmen Atmosphäre. Christine Menzel ist begeistert von der »tollen Wohnform«. Die hat ihren Vater vor dem Heim bewahrt.
2006 gab es in Hamburg nur drei Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz, heute sind es 34. Tendenz steigend! »Wohn-Pflegegemeinschaften bieten älteren Menschen eine Perspektive, wenn es zu Hause nicht mehr geht«, sagt Ulrike Petersen vom Team der Hamburger Koordinationsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften.
Internet
www.stattbau-hamburg.de
www.deutsche-alzheimer.de
www.alzheimer-hamburg.de
www.kda.de
www.pflegelotse.de
www.gofi-luzie.de
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