Herzklopfen – nicht kostenlos

Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht – ein Buch zum 60.

  • Philipp Schielmann
  • Lesedauer: 5 Min.
Verbeugung angebracht? Fotos: dpa/Uli Deck
Verbeugung angebracht? Fotos: dpa/Uli Deck

Rechtzeitig zum 60. Jahrestag der Gründung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist das Buch auf den Markt gelangt. Michael Stolleis und Zunftkollegen wollen Bilanz ziehen. Der Herausgeber, Rechtsprofessor an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und bis 2006 Direktor am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, hat auch Wissenschaftler benachbarter Disziplinen, so der Soziologie, Philosophie und Politologie, aber auch der Theologie und Journalistik, gebeten, sich an diesem Geburtstagsgeschenk zu beteiligen. Zudem lud er Autoren aus Ungarn, Polen und Frankreich ein, einen Blick »von außen« auf Karlsruhe zu werfen. Gebunden wurde ein bunter, freundlicher Strauß, in dem sich einige zarte Distel verstecken.

»Das Gericht wird beachtet und beobachtet wie kein anderes. Seine Entscheidungen sind – aktiv oder passiv – wesentliche Elemente der öffentlichen Auseinandersetzungen. Es erfährt Zustimmung und Kritik nicht nur von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, sondern aus allen Teilen der Gesellschaft – kein Wunder angesichts der Affinität zur Politik«, schreibt Stolleis im Vorwort. Generell erfahre das BVerfG jedoch breite Zustimmung. Karlsruhe habe sich im In- und Ausland »höchstes Ansehen« erworben, konstatiert Stolleis, der sodann metaphorisch die beiden Senate »Herzkammern der Republik« nennt. Und: »Auch Herzkammern arbeiten nicht immer störungsfrei.«

Vor allem aber ist Herzklopfen, will man im Bild bleiben, in diesem Fall nicht kostenlos. Wer vor das am 28. September 1951 in Karlsruhe feierlich einberufene Gericht zieht, muss wissen, worauf er sich einlässt. Das Wort »Wunder« und »Wunden« liegen nah beieinander, bemerkt Heribert Prantl. Der Journalist von der »Süddeutschen Zeitung« lobt zunächst auch erst einmal das Gericht. Es habe die Grundrechte gestärkt, beginnend mit dem sogenannten Lüth-Urteil von 1958. Erich Lüth, Chef des Hamburger Presseamtes, hatte zum Boykott eines in den Kinos anlaufenden Films des »Jud Süß«-Regisseurs Veit Harlan aufgerufen, worauf Verleihfirmen vor Gericht zogen. Die Verfassungsrichter stellten das Recht auf Meinungsfreiheit über wirtschaftliche Interessen. Positiv wertet Prantl auch, dass das Gericht Mitte der 90er Jahre trotz heftiger Proteste entschied, das Zitieren von Tucholskys berühmten Wort »Soldaten sind Mörder« sei nicht strafrechtlich relevant. Hernach beklagt Prantl: »Vor 15 Jahren freilich haben die Richter einen historischen Fehler gemacht. Sie haben 1996, gedrängt von der Politik und der öffentlichen Meinung, dem kümmerlichen neuen Asylrecht den Segen erteilt.« Seitdem sei dieses nur noch nominell ein Grundrecht, nur noch eine Attrappe, »ein Grundrechtchen«. Die Chance, sich hier zu korrigieren, hat das Gericht bislang nicht genutzt. »Es hat den Mut dazu nicht gehabt.«

Ein weiterer Autor, der nicht zur Zunft der Juristen gehört, ist Norbert Frei. Der Historiker erinnert daran, wie wenig das Bundesverfassungsgericht dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer am Herzen lag. In seinem Beitrag, der sich mit dem BVerfG als »vergangenheitspolitischen Akteur« befasst, verweist Frei auf Urteilssprüche zu Klagen, die sich auf das »131-er Gesetz« bezogen, welches die Reintegration alter Nazis weitgehend ermöglichte, aber doch einigen NS-Belasteteten, etwa einem Gestapo-Mann, nicht. Das Gericht habe in diesem Kontext zwar kritisch Stellung zur Verantwortung der Eliten im NS-Staat und die eigentlich nicht opportune Kontinuität im Beamtenapparat Stellung bezogen, von einschneidender gesellschaftlicher Wirkung waren die diesbezüglichen Sprüche jedoch nicht, urteilt Frei. Eine selbstkritische Rezeption innerhalb der Beamtenschaft, zumal bei den Juristen, erfolgte nicht, ließ noch Jahrzehnte auf sich warten.

Das Bundesverfassungsgericht als »political player« nimmt Robert Leicht unter die Lupe, ebenfalls ein Journalist. In diesem Beitrag fehlt das skandalöse KPD-Verbotsurteil nicht. Auch in anderen Aufsätzen wird es erwähnt, jedoch dieses wie die darauf folgenden Einkerkerungen und Ausgrenzungen von Kommunisten in der Bundesrepublik nicht explizit als eklatantes politisches Unrecht angeprangert. Leicht geht auf die Klage der Bayrischen Staatsregierung unter Franz Josef Strauß gegen den Grundlagenvertrag von 1973 ein und spürt noch heute das Unbehagen, das die Richter gegenüber dieser de-facto Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik empfanden. »Gleichwohl wollten die Richter nun einen Weg finden, den Vertrag unter Vermeidung eines internationalen Desasters insgesamt passieren zu lassen – freilich unter Begleitgeräuschen, die sogar die Opponenten ... als Erfolg verbuchen konnten«. Zu Widerspruch reizt der Vorwurf von Leicht an jene Bürger und Bürgerinnen in Ost- und Westdeutschland, die sich 1990 eine Wiedervereinigung nach Art. 146 GG und auf der Grundlage einer neuen Verfassung gewünscht hatten. Sie würden gänzlich verkennen, dass »mit der dazu nötigen Außerkraftsetzung des Grundgesetzes ... auch der Ertrag der Karlsruher Judikatur zum Grundgesetz außer Kraft gesetzt worden wäre«. Und dies wäre »überaus bedauerlich gewesen«. Diese »Logik« ist nicht nachzuvollziehen.

Die politisch aktuellsten und brisantesten Beiträge in diesem Buch haben ein Historiker und ein katholischer Geistlicher verfasst. Hans-Ulrich Wehler, der eingangs zunächst einmal den liberalen Rechtsstaat als »großartige Zielutopie der besten progressiven Köpfe in mehreren Generationen« feiert, widmet sich den Problemen, die mit der weiteren europäischen Integration und insbesondere der Euro-Krise auch auf das Bundesverfassungsgericht zukommen. Der Geschichtsprofessor registrierte in jüngsten Äußerungen von Karlsruher Rchtern »eine deutliche Skepsis gegenüber der anhaltenden Einengung souveräner deutscher Parlamentsentscheidungen durch die Brüssler Oberherrschaft«. Wie wird das Verfassungsgericht bezüglich der Klagen wegen Griechenland-Hilfe und Rettungsschirme entscheiden? Wird das BVerfG die Blockade eines neuen gemeineuropäischen politischen Kurses riskieren? Oder wird es sich der politischen Entscheidung, wesentliche parlamentarische Souveränität und Budgetrechte Brüssel zu übertragen, letztlich beugen? Wehler ist gespannt auf »das interpretatorische Kunststück, dieser dramatischen Gewichteverlagerung das Gütesiegel der Verfassungskonformität aufzuprägen«. Er hofft aber, dass die Richter »diese schmerzhafte Aufwertung von Brüssel zu einem hinnehmbaren Opfer für Europa erklären«.

Auch Kardinal Reinhard Marx befasst sich mit der Finanzkrise. Alle seit 2008 getroffenen Maßnahmen der Bundesregierung hätten nicht zur Rückgewinnung des Primats der Politik geführt. »Denn die Tatsache, dass der Staat Banken und Unternehmen retten musste, um Schlimmeres zu verhindern, weist doch nur auf eine weitere, noch tiefere Abhängigkeit hin.« Dem Kardinal geht es jedoch um weit mehr. Er insistiert, dass das Grundgesetz eine klare Entscheidung für die Sozialstaatlichkeit getroffen hat. »Das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) unterliegt sogar der Ewigkeitsgarantie nach Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes«, betont Marx. Seinen Essay vor allem sollten nicht nur Juristen, sondern auch die politisch Verantwortlichen hierzulande lesen.

Michael Stolleis (Hg.): Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das Bundesverfassungsgericht. C.H. Beck, München 2011. 298 S., geb., 29,90 €.

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