Zweikampf gerät zur Zitterpartie für Donald Tusk
Wird Polen zum Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten?
Noch vor zwei Monaten stellte sich diese Frage gar nicht. Die Bürgerplattform (PO) des Regierungschefs Donald Tusk schien jeglicher Konkurrenz haushoch überlegen zu sein. Tusk, darin waren sich die Kenner einig, werde der erste Regierungschef Polens nach der »Wende« sein, der sein Amt länger als eine Wahlperiode ausübt. Doch drei Tage vor dem Urnengang war die Lage wieder in der Schwebe. Polen gerät in den Verdacht, ein Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten zu sein.
Das liegt nicht zuletzt an den Meinungsforschungsinstituten, die die Meinung der Öffentlichkeit nicht nur erforschen, sondern sie maßgeblich beeinflussen. Je nach Auftraggeber der Umfrage (Parteien, Zeitungen, Stiftungen) unterscheiden sich deren Ergebnisse allerdings üblicherweise beträchtlich. Doch nie zuvor klafften die Voraussagen so auseinander: Mal wird der PO ein Vorsprung von 15 Prozentpunkten versprochen, mal liegen Kaczynskis PiS und die P0 nur einen einzigen Prozentpunkt auseinander.
Auf etwa 25 bis 30 Prozent wird der Anteil jener Wähler geschätzt, die noch gar nicht entschieden haben, welcher Partei ihre Stimme zufallen wird. Und das ist längst nicht der einzige Unsicherheitsfaktor. Viel wichtiger für den Wahlausgang ist die Frage, wie viele von den etwa 30 Millionen Wahlberechtigten von ihrem - wie es heißt - »demokratischen Recht, die Geschicke des Landes zu gestalten«, Gebrauch machen. Das Institut OBOP sagte zuletzt eine Wahlbeteiligung von 47,5 Prozent voraus. Im »transformierten« Polen ist das seit 22 Jahren die Norm. Nur bei zwei von sechs Sejmwahlen (1993 und 2007) lag die Wahlbeteiligung über 50 Prozent.
Zuletzt, 2007, ging es um die Alternative »Dritte« oder »Vierte« Republik. Zwei Jahre lang hatte eine von der PiS unter Jaroslaw Kaczynski geführte Regierung gewaltet und ein bedrückendes System à la Pi?sudski einzuführen versucht. Dem erteilte das Wahlvolk eine Abfuhr, indem es sich der zwar ebenfalls rechten, aber liberalen PO zuwandte.
In diesem Jahr verläuft die Hauptkampflinie ähnlich: PiS gegen PO. Jaroslaw Kaczynski greift an, Donald Tusk ist in Verteidigungsstellung. Der eine kündigt an, Polen zum Staat einer großen und stolzen Nation zu machen, der andere mahnt: Unter Kaczynski werde Polen die »griechische Fahne« hissen müssen. Wenn die PiS wiederkommt, drohe dem Land eine Katastrophe, die einzige Alternative sei er - Donald Tusk. Angstmache ist das Hauptinstrument der Bürgerlichen.
Überdies prahlt Tusk mit dem Wachstum in seiner vierjährigen Regierungszeit, während andere EU-Staaten in dieser Zeit schwere Rückschläge hinnehmen mussten. Dass die Arbeitslosenquote ungeachtet dessen bei 11,6 Prozent liegt und jeder dritte Universitätsabsolvent unter 27 Jahren ohne bezahlte Beschäftigung ist, lässt aber auch die Unzufriedenheit wachsen.
Und die nutzt Kaczynski aus. Seine PiS baut auf vier Säulen: auf die Gewerkschaft »Solidarnosc«, auf die Kirche, auf die militanten Fußballfanatiker (»Kibole«) und auf die arbeitslose Jugend.
Zwar beansprucht auch die Tusk-Partei den »Solidarnosc-Ethos« für sich, doch die PO repräsentiert die saturierten Gewinner der Transformation, die PiS dagegen die »zurückgebliebenen Verlierer«. Aus der 10-Millionen-Bewegung, die Polen vor 30 Jahren umwälzte, ist eine Gewerkschaft von 650 000 Mitgliedern geworden. Das macht 6,2 Prozent aller Beschäftigten aus, wobei 75 Prozent davon als »selbstständige Subjekte« malochen, der Rest in noch bestehenden staatlichen Firmen. Mit der »Solidarnosc« in Polen steht es so wie mit der »Solidarität« in der EU. Doch für laute Demonstrationen zugunsten Ka-czynskis sind die Hinterbliebenen der »S« noch stark genug.
Lautstark sind auch die »Kibole«, Polens berüchtigte Fußballultras. Vor den Fußball-Europameisterschaften 2012 im eigenen Land will Regierungschef Tusk der Gewalt in den Stadien durch harte »Null-Toleranz-Gesetze« ein Ende setzen. Die radikalen »Kibole« protestieren - und sehen sich von der PiS und deren Presse als »Patrioten« und Wähler umworben.
Eine direkte Debatte mit Tusk im Fernsehen lehnte Kaczynski ab. Wenn auch nicht wörtlich, so wärmte er doch sinngemäß bei zahlreichen Treffen im Lande die 2005 erprobte Kampfparole »Soziales oder liberales Polen?« wieder auf. Wie aus seinem jüngsten Buch »Das Polen unserer Träume« hervorgeht, will er »alles umgraben«. Auf zig Milliarden Zloty werden die Kosten dieser seiner »Träume« beziffert, aber das gilt auch für die Versprechungen fast aller anderen Parteien.
Um die 460 Sejmmandate bemühen sich 7041 Kandidaten, sieben Parteien stehen landesweit auf den Wahlzetteln. Den Prognosen zufolge haben jedoch außer PO und PiS nur der Bund der Demokratischen Linken (SLD), die Bauernpartei PSL und die polnische Version der »Piraten«, die Bewegung Palikots (RP), Chancen auf Sitze im Sejm. Die 100 Mandatsträger des Senats werden in ebenso vielen Einzelwahlkreisen gewählt.
Staatspräsident Bronislaw Komorowski appellierte an das Volk: »Wählen ist Bürgerpflicht.« Dem widersprach Ryszard Bugaj, einst ein Linker von der Union der Arbeit (UP): »Wenn sich die Menschen von keiner Partei repräsentiert wissen, gehen sie eben nicht hin.« Wer die »enormen Fortschritte« nicht genießt, sich ausgestoßen fühlt oder »zurückgeblieben« ist, habe keinen Grund, abermals an die Versprechungen der Satten zu glauben. So erwartet die Demokraten der PO am Sonntag eine Zitterpartie.
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