Schlupfloch für die Zwangsbehandlung

Urteil des Bundesverfassungsgerichtes stärkt die Rechte psychisch kranker Straftäter

  • Lesedauer: 3 Min.
Das Bundesverfassungsgericht erklärte kürzlich das baden-württembergische Gesetz über die zwangsweise medizinische Behandlung psychisch kranker Straftäter teilweise für nichtig. Es gab damit einem Kläger aus Baden-Württemberg recht, dem - seit 2005 im Maßregelvollzug - gegen seinen Willen ein Neuroleptikum gespritzt werden sollte.
Matthias Seibt ist Vorstandsmitglied des Bundesverbands Psychiatrie-
Erfahrener.
Matthias Seibt ist Vorstandsmitglied des Bundesverbands Psychiatrie- Erfahrener.

ND: Handelt es sich um das erste Urteil des höchsten Gerichts zur Zwangsbehandlung?
Seibt: Bereits im März 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht den entsprechenden Passus des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes über den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln für nichtig erklärt. Auch in diesem Fall ging es um die Zwangsbehandlung.

Stützt sich das Gericht dabei auch auf internationale Verträge, wie die Menschenrechtskonvention?
Nein, es stützt sich in dem Urteil ausschließlich auf das Grundgesetz. Die Zwangsbehandlung ist ein unverhältnismäßiger Eingriff in die durch Artikel 2, Absatz 2, Satz 1 des Grundgesetzes geschützte körperliche Unversehrtheit, argumentieren die Richter. Dabei hat sie wohl unser Gutachten überzeugt, in dem wir nachgewiesen haben, wie schädlich die Zwangsbehandlung ist und wie viele Todesfälle daraus resultieren.

Gibt es auch in anderen Bundesländern Gesetze, die eine Zwangsbehandlung erlauben?
Die gibt es in allen Bundesländern und sie gelten so lange, bis ein Betroffener aus dem jeweiligen Bundesland dagegen klagt. Ein Jurist aus Niedersachsen hat schon erklärt, dass das Maßregelgesetz dort fällt, wenn ein Betroffener es schafft, mit seiner Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zugelassen zu werden.

Aber ein generelles Verbot kam aus Karlsruhe nicht?
Nein, das Gericht hat entschieden, dass die laxe Praktizierung von Zwangsbehandlungen nicht mehr möglich ist. So kann sie nicht mehr wegen einer angeblichen Gefährdung der Öffentlichkeit angewendet werden. Lediglich wenn jemand keinen freien Willen mehr besitzt und dadurch auf unabsehbare Zeit in der Psychiatrie bliebe, ist eine Zwangsbehandlung möglich. Wir kritisieren, dass das BVG doch noch ein Schlupfloch für die Anwendung der Zwangsbehandlung offen gelassen hat. Aber angesichts der Tatsache, dass sich über Jahrzehnte nichts in der Psychiatrie verändert hatte, war ein generelles Verbot der Zwangsbehandlung auch nicht gleich zu erwarten gewesen.

Betrifft das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes nur verurteilte Straftäter?
Keineswegs, mit dem Urteil wird die Zwangsbehandlung generell stark eingeschränkt. Also nicht nur der psychisch kranke Straftäter, sondern auch der harmlose Spinner, der aus irgendwelchen Gründen in der Psychiatrie landet, kann in Rheinland Pfalz und Baden-Württemberg und hoffentlich bald auch anderen Bundesländern nicht mehr gegen seinen Willen behandelt werden.

Gibt es für Ihre Organisation in dieser Frage noch Handlungsbedarf?
Mehr denn je. Wir müssen darauf achten, dass nicht durch die Hintertür um den angeblich nicht vorhandenen freien Willen herum wieder Regelungen getroffen werden, die die alte Praxis der Zwangsbehandlung fortsetzen. Daher müssen wir auf Kongressen für die Abschaffung kämpfen und Politiker der Landesparlamente von unseren Argumenten zu überzeugen versuchen.

Gibt es in dieser Richtung Unterstützung von Parteien?
Momentan haben wir auf der parlamentarischen Ebene für unsere Forderung nach einem Verbot der Zwangsbehandlung keine Verbündeten.

Interview: Peter Nowak

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