Die Toten von der Sonnenstein-Kippe
Mahnmal für »Euthanasie«-Opfer eingeweiht
Die Bäume am Hang unterhalb der früheren Heilanstalt in Pirna-Sonnenstein tragen schwarz-weiße Ringe. Dank der Muster auf der Rinde wird eine Fläche aus dem ansonsten dichten Laubwald herausgehoben, die eine Art Friedhof darstellt. Hier liegen die sterblichen Überreste Tausender Opfer des ersten Massenmords der Nationalsozialisten, der »Euthanasie«, bei der Behinderte, deren Leben als »unwert« eingestuft wurde, ermordet wurden. Mit einem Mahnmal oberhalb des Hangs wird seit gestern an die Toten erinnert.
Das Waldstück hinter dem Haus C 13 der Anstalt war kein Friedhof, sondern eine ehemalige Deponie, sagt Boris Böhm, Leiter der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein. Dort wurde die Asche vieler Menschen, die zuvor im Keller des Gebäudes in einer Gaskammer qualvoll starben und deren Leichen danach in einem Krematoriumsofen verbrannt wurden, »würdelos abgeworfen«, wie der Gedenkstättenleiter formuliert.
Insgesamt 13 720 geistig oder körperlich Behinderte - und außerdem 1031 KZ-Häftlinge - wurden zwischen Juni 1940 und August 1941 auf dem Sonnenstein umgebracht. Das Haus C 13 beherbergte damals eine von sechs NS-Tötungsanstalten, wo Psychiatriepatienten systematisch getötet wurden. Manchmal wurden Urnen mit den sterblichen Überresten an die Angehörigen verschickt; vielfach wurde die Asche aber einfach auf die Halde gekippt.
Wie viele Menschen am Hang ihre letzte Ruhe gefunden haben, lasse sich nicht ermitteln, sagt Böhm. Akten existieren nicht, und umfangreiche Grabungen »verbieten sich aus Gründen der Pietät«. Vorsichtige Untersuchungen gab es freilich. Sie waren nötig, um überhaupt die Lage des Grabfeldes ermitteln zu können - schließlich sei viele Jahre lang gar nicht bekannt gewesen, dass die Asche derart respektlos entsorgt worden war. Berichte eines Zeitzeugen seien 1994 Anlass für die Entnahme erster Bodenproben gewesen, die jedoch kein Ergebnis brachten. Das Auftauchen eines Lageplans führte ab 2001 zu neuen, letztlich erfolgreichen Untersuchungen.
Künftig werden mit den Markierungen an den Bäumen nicht nur Besucher der Gedenkstätte auf das Grabfeld hingewiesen; mit dem Mahnmal gibt es erstmals auch für die Hinterbliebenen der Opfer einen Ort zum Trauern. Der Pirnaer Baukünstler Tobias Hackbeil entwarf dafür zwei Stelen, deren Zwischenraum ein Kreuz formt.
Mit ihrer Höhe von sechs Metern sollen die Stelen auf die Mächtigkeit der Kippe hinweisen: Menschliche Überreste wurden dort bis in 8,60 Meter Tiefe gefunden, sagt Böhm. Die vielen Schichten, die dort übereinander liegen und in denen sich die Asche der Toten mit Schutt und Humus abwechselt, verdeutlicht der in unterschiedlichen Grautönen abgestufte Stampfbeton der Stelen. Mit der festlichen Einweihung des Erinnerungsortes, dessen düstere Geschichte auf zwei Informationsstelen erläutert wird und dessen Errichtung 152 000 Euro kostete, finde die im Jahr 2000 eröffnete Gedenkstätte auf dem Sonnenstein nun »auch äußerlich ihren Abschluss«, sagt Leiter Böhm.
Erst seit den 70er Jahren hatte eine kleine Tafel an die dort verübten Verbrechen erinnert, die jahrzehntelang aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt worden waren. Nun gibt es endlich auch ein dauerhaftes Mahnmal.
75000 Opfer
Behinderte galten im NS-Staat als »unwertes Leben«. Ab 1933 mussten sie sich Zwangssterilisierungen unterziehen; 1939 begann der mit »Rassenhygiene« und wirtschaftlichen Erwägungen begründete Massenmord unter dem beschönigenden Begriff »Euthanasie« (wörtlich: »schöner Tod«), dem 5000 Kinder und 70 000 Erwachsene zum Opfer fielen. (hl)
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