Hochgeschwindigkeitstragikrimödie

Puppen stellen die Weichen bei »Intercity« im Weiten Theater

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Zug fährt durch. Wie immer. Sechs Lakower sehen ihm vom Dorfbahnsteig nach. Der Intercity ist nicht aufzuhalten. Sie haben es ja versucht mit schlecht organisierter Kriminalität. Hat nicht geklappt. »Jetzt tut's wieder langweilen«, beklagt Lully, Tochter des jüngst verstorbenen Stellwerkers Klaus Walter. Nichts mehr los »in diesem unseren Lakow«. Ihren polnischen Verlobten Jaroslav, den die Lakower ungehemmt Polacken nannten, hat es im Stellwerk erwischt. Hat nicht anders sollen sein.

Entgleisen lassen wollten sie den Durchrasenden. Dann wären sie in allen Medien gewesen. Sie, die »sechs Stück Giftmüll«, wie sie sich als Rest des früher 1200 Seelen zählenden Dorfes irgendwo in der Provinz bezeichnen, hatten schon mal zur Probe per Video Augenzeugenberichte von sich aufgenommen. Schreckliches habe er gesehen. Er wollte Erste Hilfe leisten, schildert Jochen. Als Metzger kenne er sich mit so etwas aus. Bei der Planung hatte der Homosexuelle allerdings mit sich gerungen, an kleine blonde Männer gedacht, die sich »verletzen tun« könnten. Aber die anderen können ihn beruhigen. »Jochen, wir steh´n hinter dir!«

Mit dem Handpuppentheater »Intercity« nach Oliver Bukowski brachte das Weite Theater das Schwärzeste heraus, was dort je gespielt wurde. Tragikrimödie kann man das Gegenwartsstück nennen. Bukowski schrieb es - ganz sicher nicht fürs Puppentheater - Anfang der 90er Jahre. Da leerten sich die Dörfer.

Seine Art, Provinzielles und Tragisches in Hörspielen und Theaterstücken zu verarbeiten, erregte Aufmerksamkeit. Beispielsweise »Londn-L.Ä.-Lübbenau« oder »Nichts Schöneres« zeigten das oft als Komödie verstandene Volkstheater unkonventionell tragisch. Regisseur Jörg Lehmann, Dozent an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, wagte nun zusammen mit den Künstlern des Weiten Theaters (DWT) den »dramatischen Sprung« auf die Spielleiste der Puppenbühne. Und dafür hat er sich das richtige Haus ausgesucht.

Nichts für zarte Gemüter. Sex, Gewalt, alles drin. Dazu gibt es eine von finsterem Humor geprägte Friedhofskapellenszene, in der einige der Mitwirkenden mit dem Sarg hernieder fahren. Da wird es turbulent. Eine weitere Zuspitzung wie die kurzzeitige Auferstehung des verstorbenen alten Stellwerkers ist da gar nicht vonnöten und wirkt übertrieben.

Der Umgangston ist hart in Lakow. Auch wenn die fast alle miteinander verwandten Restbewohner in ihrer Kneipe »Zum Fäßchen« schon mal rührselig werden, ihre Dorfhymne singen oder sich - dessen bewusst oder nicht - zum Rütlischwur hinreißen lassen. »Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern.«

So sehen sie auch aus. Dafür sorgte Atif Hussein, der auch Bühne und Projektionen verantwortet. Im filmischen Hintergrund erscheinen bei den von den Lakowern angefertigten Augenzeugenvideos dann die Puppenspielkünstler kostümiert als Abbilder der Puppen. Sie sind die perfekten Komplizen.

In dem Stück mit der Fahrzeit von »1 h 20 min., ohne Zwischenhaft« hagelt es Phrasen, die von den Dörflern »weiterentwickelt« werden. Als Politiker sei er für alles und überall offen - ein einziges Loch, deklamiert Bürgermeister Ben. Die Puppenspieler bedienen sich einer märkischen Mundart, die man schon wenige Kilometer nördlich von Berlin »benutzen tut«, ohne sich um die Regeln der deutschen Grammatik zu scheren.

Irene Winter, Christine Müller, Torsten Gesser und Martin Karl bringen das Können und vor allem den künstlerischen Mut für dieses Projekt mit. Sicher und gewitzt führen sie die großen Puppen. Manchmal leihen sie ihnen ihre Hände. Det muss man mal erleben tun.

4.11., 20 Uhr, DWT, Parkaue

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