»Aufräumen« in Rio

Vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien besetzen Polizeieinheiten Armenviertel, sind aber oft selbst in die Kriminalität verstrickt

  • Andreas Behn, Rio de Janeiro
  • Lesedauer: 6 Min.
Nach der Besetzung der von Drogengangs beherrschten Armensiedlung Rocinha in Rio de Janeiro will die Polizei bis zum Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 weitere Favelas der Stadt unter ihre Kontrolle bringen. Dass Teile der Polizei in die kriminellen Aktivitäten verstrickt sind, wird ausgeblendet.

»Die Rocinha gehört uns«, titelte die größte Zeitung Rio de Janeiros, »O Globo«, nach der Besetzung der größten Favela Brasiliens. Der Ausruf des konservativen Blattes zeigt die ganze Widersprüchlichkeit des Ereignisses - von Erleichterung über Arroganz bis hin zur Gewohnheit, die Ursachen der urbanen Tragödie zu leugnen.

An diesem Morgen sind die knapp tausend Meter hohen Bergspitzen rund um die Rocinha - ein unübersichtliches Häusermeer an einem steil aufsteigenden Hang - von Wolken umhüllt. Die polizeiliche Sperrung der Schnellstraße, die eingekeilt zwischen dem Bergmassiv und dem Atlantik die schicken Stadtteile Ipanema und Leblon mit dem neureichen Vorort Barra verbindet, ist aufgehoben. Noch ist die Ruhe angespannt, doch für die meisten Menschen ist Alltag und Wochenanfang.

Nur die Polizei ist rundum zufrieden

»Unser Ziel war es, die Menschen hier von der Kontrolle durch die Organisierte Kriminalität zu befreien«, erklärte der Staatssekretär für Sicherheit von Rio de Janeiro, José Beltrame. Auch Gouverneur Sergio Cabral und die Polizeiführung sind rundum zufrieden. Die Besetzung der Rocinha und der beiden Nachbarviertel Vidigal und Chacara do Ceu durch Sondereinheiten der Polizei mit Unterstützung des Militärs verlief nach Plan. Nicht ein einziger Schuss wurde abgegeben, während laut Statistik in Rio de Janeiro jeden Tag zwei bis drei Menschen durch Polizeikugeln getötet werden - zumeist Bewohner der über 500 Favelas der Stadt.

Die Reaktionen der Bewohner sind verhaltener, doch Erleichterung überwiegt. »Endlich kann ich überall hingehen, ohne Angst vor Schießereien zu haben«, sagt eine Frau, während ihr Sohn mit den schwer bewaffneten Polizisten feixt. Ein 16-Jähriger dagegen befürchtet, dass nun alles anders, kontrollierter wird und er nicht mehr ohne Helm und Führerschein Motorrad fahren kann. Der Kommentar eines vorbeigehenden Herrn jedoch bringt die Lage auf den Punkt: »Wir, die wir hier leben, dürfen gar nichts sagen. Das war so und das bleibt so.«

Die Rocinha mit ihren rund 100 000 Einwohnern ist die neunzehnte Favela von Rio, die dauerhaft von der Polizei besetzt und mit einer Befriedungstruppe (UPP - Unidade de Polícia Pacificadora) ausgestattet wird. Rund um die Rocinha werden es 2000 Beamte sein. Besetzt werden die Favelas, um sie der Kontrolle von Drogenbanden zu entreißen. Diese oft miteinander verfeindeten Banden nutzen die Abwesenheit der Staatsmacht im polizeilichen wie im sozialen Sinne, um eigene Regime zu installieren. Das Machtrepertoire der Drogenbosse reicht von willkürlich bereitgestellten Sozialleistungen und beliebten Kulturveranstaltungen bis hin zu einem rauen, machistischen Umgangston und Selbstjustiz mit der qualvollen Hinrichtung von Verrätern.

Das UPP-Projekt ist folgerichtig auch kein Programm zur Bekämpfung des Drogenhandels. Es geht offiziell in erster Linie um die Kontrolle von Territorien, indem verhindert wird, dass selbsternannte Ordnungshüter mit Waffen Macht ausüben können. Dies ist auch der Grund für die Unterstützung seitens der Mehrheit der Bewohner: Trotz der Klagen über einzelne Misshandlungen während der Besetzungen und über das diskriminierende Auftreten der UPP-Beamten im Alltag sei dies immer noch besser als ständige Schießereien und Kämpfe zwischen den Banden um die Verkaufsstellen der Drogen. Die Jahre, in denen die Rocinha und die benachbarte Favela Vidigal von verfeindeten Banden kontrolliert wurden, werden hier schlicht als »der Krieg« erinnert, ein ständiger Ausnahmezustand mit Hunderten von Toten.

Die UPP sind nicht der erste Versuch, des Machtpokers in den Favelas Herr zu werden. Dass es der erste ist, der ernsthaft umgesetzt wird, liegt an der neuen internationalen Rolle, die die junge Großmacht Brasilien für ihr touristisches Schaufenster, ihre »Wunderbare Stadt« Rio de Janeiro, auserkoren hat: 2016 findet hier Olympia statt, 2014 das Endspiel der Fußball-WM, 2012 die UN-Konferenz über Nachhaltige Entwicklung. Folgerichtig entstehen die UPP in den Favelas, die in der reichen Südzone der Stadt oder in unmittelbarer Nähe der Sportstätten wie dem legendären Maracanã-Stadion liegen. Kaum jemand fragt, wie es in den anderen knapp 500 Favelas außerhalb der Touristenzone zugeht, in denen viele der vertriebenen Bandenchefs untergekommen sind.

Fraglich ist auch, ob nach der Ordnungsmacht wirklich die versprochene soziale Infrastruktur in die Rocinha kommen wird. Geplant ist bereits eine Seilbahn mit neun Stationen und Anschluss an die U-Bahn, die kurz vor Olympia fertiggestellt sein soll. Dafür müssen voraussichtlich 1000 Bewohner ihre Häuser räumen, wie so viele andere im Zuge der Stadt-verschönerungen für die sportlichen Großereignisse. »Durch die UPP ist das Leben viel teurer geworden, Mieten und Gebühren steigen«, klagt der Musiker Fiell aus der Favela Santa Marta, die Ende 2008 als erste befriedet wurde. »Aber auf Abwasser- und bessere Gesundheitsversorgung warten wir immer noch vergeblich.« Vor kurzem wurde Fiell verhaftet, weil er in einem Freien Radio ohne Sendelizenz arbeitet. »Die Veränderungen werden woanders geplant und unserer Gemeinde von außen aufgezwungen. Nie werden die Bewohner zu Rate gezogen. Es geht darum, uns ein anderes Lebensmodell aufzudrücken«, klagt Rapper Fiell, der ein Büchlein mit herausgegeben hat, das Tipps gibt, wie sich die Menschen gegen Polizeiübergriffe zur Wehr setzen können.

Die entscheidende Frage bezüglich der bejubelten friedlichen Besetzung wird allerdings nur selten gestellt: Wieso kann so reibungslos durchgesetzt werden, was jahrelang als »militärisch nicht machbar« bezeichnet wurde? Wieso wurde die Willkür von Bandenchefs gegenüber den Favela-Bewohnern so lange toleriert? Dass es nur am politischen Willen mangelte, ist angesichts des traurigen Images der »Wunderbaren Stadt« als Gewaltmetropole zweifelhaft. Die Antwort auf diese Frage gab nach seiner Festnahmen kurz vor der Besetzung der Rocinha der Drogenboss Nem, alias Antônio Lopes: Die Hälfte seiner Millioneneinnahmen sei direkt in die Bestechung der Polizei geflossen.

Was passiert in den Favelas nach Olympia?

Es sei eine Schande, dass in Rio de Janeiro kaum ein Verbrechen ohne Zutun von Polizisten begangen wird, schrieb schon der renommierte Kolumnist Zuenir Ventura. Es ist davon auszugehen, dass der Löwenanteil der Gewinne aus Drogen- und Waffenhandel sowie anderer Einnahmen aus der territorialen Kontrolle in die Kassen der Militär- und Zivilpolizei und ihrer Hintermänner in der Politik fließt. Für die Uniformierten, deren Todesschüsse generell und juristisch selten untersucht als »Notwehr« in die Akten eingehen, ist es zudem ein Leichtes, die Banden gegeneinander auszuspielen, damit denjenigen das Terrain überlassen wird, die am besten zahlen.

Um Rio de Janeiro salonfähig zu machen, wird dieses Stillhalteabkommen infrage gestellt. Immer mehr Milizionäre und korrupte Polizisten fliegen auf und werden angeklagt, so wie ein ehemaliger Kommandant der Militärpolizei samt Helfershelfern, die im August eine unbestechliche Richterin kurzerhand hinrichteten. Entsprechend ändert sich der öffentliche Diskurs: Statt der Mär von der guten Polizei und den bösen Banditen wird immer häufiger zwischen den guten und den bösen Polizisten unterschieden. Ob dies ausreicht, um den Teufelskreis von sozialer Ausgrenzung und staatlich geduldeten Gewaltregimen zu durchbrechen, wird von Vielen bezweifelt. Bleibt die bange Frage: »Was soll aus uns werden, wenn die Olympiade vorbei ist?«

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