Aus freien Stücken Risiko gewählt
Gregor Gysi zur Ehrung von Angela Davis
Wenn wir heute Angela Davis ehren, würdigen wir nicht ausschließlich ihr persönliches Engagement. Angela Davis ist uns allen auch deshalb bekannt, weil sie eine Art Symbolfigur ist, die für antirassistische, für politische und soziale Kämpfe um Emanzipation aller steht. Mit ihr würdigen wir auch alle anderen, die in diesen Kämpfen gestanden haben und immer noch stehen. (...)
Max Weber hat Herrschaft so bestimmt, dass es eine Chance gibt, für einen »Befehl« bei einem angebbaren Adressatenkreis seine Befolgung zu erzwingen. Durch den Ausdruck »angebbarer Adressatenkreis« deutet sich eine institutionelle Verfestigung an. Beispiele für herrschaftliche Institutionen sind bürokratische Apparate, Betriebe, pädagogische Einrichtungen, soziale Konventionen, Kliniken, Kasernen und Gefängnisse. Die Verstetigung dieser Herrschaftsbeziehung ist ohne Legitimation, ohne Anerkennung der Herrschaftsbeziehung nicht denkbar. (...)
Infragestellung der Herrschaftsbeziehung führt zu kritischen Theorien. Gesellschaftskritik, das will ich hier anmerken, versucht, die Geste des Innehaltens, des Aussteigens aus dem unmittelbaren Gehorsam ins Normale zu wenden. So auch habe ich immer die Elfte Feuerbachthese von Marx verstanden, dass die Philosophen die Welt verschieden interpretiert hätten, es aber darauf ankäme, sie zu verändern. Die Theorie schafft nicht nur das Bewusstsein der Änderbarkeit der Verhältnisse; sie kann darüber hinaus nur dann erfolgreich sein, wenn sie zu einer Theorie der Veränderungswilligen wird. Eine Gesellschaftskritik, eine dialektische zumal, die nicht ihrerseits für das stets stattfindende Unrecht sensibel macht, wird daher auch ihrem Zweck niemals gerecht.
Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen. Sie kennen das alle aus der Zeit der sogenannten Rassentrennung. Es gab Parkbänke, auf denen ein Schild »Nur für Weiße« angebracht war. Es bringt natürlich nichts, wenn ich mir als Weißer in Erinnerung rufe, dass ich keinerlei rassistische Vorurteile habe, und mich dann trotzdem auf diese Bank setze. Ich spiele dann einfach mit. (...) Ebenso spielen diejenigen mit, die schwarz sind, und sich nicht auf diese Bank setzen, obwohl ihnen vielleicht nach Sitzen zumute ist. Sie mögen widerwillig mitspielen, aber sie tun es. Hier geht es nicht um eine explizit rassistische Ideologie, aber doch um eine faktische Anerkennung der rassistischen Vorschrift. Diese mag aus Pessimismus heraus erfolgen, sie mag auch aus Angst vor Repressionen gespeist sein, sie ist also ganz anderer Art, aber sie hält die rassistische Grundstruktur ebenfalls am Laufen.
Und nun kommt es zu einem Akt zivilen Ungehorsams, den wir von Rosa Parks kennen. Sie hat sich geweigert, von ihrem Platz im Bus aufzustehen. Damit hat sie mehr getan, als nur die »öffentliche Ruhe« gestört, wie das Gerichtsurteil dann lautete. Sie hat im Getriebe nicht mehr mitgespielt. (...) Mit einem Mal, eine Frau wird von der Polizei verhaftet und vor Gericht gezerrt, wird der Irrsinn einer rassistischen Praxis in einem Land deutlich, das sich als freies Land verstand, als Land der gleichen Rechte für alle. (...)
Ich bin keineswegs dafür, liberale Werte wie Freiheit und Rechtsgleichheit zu unterschätzen. Allerdings sollte man sie auch nicht überschätzen. Ich möchte Ihnen eine Passage aus der »Unabhängigkeitserklärung« der Vereinigten Staaten von Amerika zitieren, nämlich »dass alle Menschen gleich geboren; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind; dass zu diesem Leben Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehöre«. Diese Überzeugung wird in der »Erklärung« als Evidenz, als keines weiteren Beweises bedürftig, ausgewiesen.
Thomas Jefferson gilt als der Autor dieser Erklärung. Ich stelle mir vor, wie er über den genauen Wortlaut des Textes nachgedacht haben mag, während auf seinen Feldern in Virginia Sklaven arbeiteten. Deshalb sollte man den Liberalismus eben nicht überschätzen. (...) Ebenso wenig ist der Liberalismus eine geeignete politische Ideologie, um das Herrschaftsverhältnis, das sich in der kapitalistischen Lohnarbeit und um sie herum ausformt, kritisch anzugreifen. (...)
Dennoch kann die Dominanz liberaler Ideologien dazu beitragen, dass Diskriminierungsstrukturen als systematische Verletzung der Gleichbehandlung sichtbar gemacht werden können. Das ist eine fortschrittliche Funktion des Liberalismus.
An diese fortschrittliche Funktion konnte die Bürgerrechtsbewegung appellieren. Das ermöglichte auch Solidaritäten in die Mehrheitsgesellschaft hinein, was schließlich auch zu Erfolgen führte. Der andere Aspekt jedoch, die Grenze des Liberalismus, brachte eine zunehmende Skepsis innerhalb der schwarzen Aktivistinnen und Aktivisten zur Bürgerrechtsbewegung hervor. Ich versuche mir das immer mit folgender Überlegung zu verdeutlichen. Nach der Sklavenbefreiung gab es formal zwar die Ausdehnung des Wahlrechts auch auf die schwarze Bevölkerung, und zwar durch den 14. und den 15. Verfassungszusatz. (...)
Doch erst mit dem Voting Rights Act 1965 konnten die Schwarzen in den Südstaaten wirklich wählen. Vom Bürgerkrieg bis zum Voting Rights Act gingen also 100 Jahre ins Land, damit hinsichtlich des Wahlrechts die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika wirksam werden konnte. Es erscheint mir einleuchtend, dass das für viele schwarze Aktivistinnen und Aktivisten ein viel zu langer Zeitraum war. (...) Die Schwarzen müssten sich auf ihre eigene Kraft besinnen, eine eigene Macht gegen das System bilden. Die Black-Power-Bewegung entstand, als militante Organisation innerhalb dieser Bewegung entstand die Black Panther Party. Immerhin sickerten einige dieser Impulse auch wieder in die Bürgerrechtsbewegung ein, die sich ihrerseits radikalisierte. (...)
Auf Widerstand, der die Vehemenz einer beschaulichen Gartenparty überschreitet, der dann auch noch gegen das Establishment gerichtet ist, reagieren Staatsapparate im Allgemeinen nervös bis neurotisch. Mit der Ermordung von Martin Luther King erreichten die Sicherheitsapparate den Zustand der Hysterie. Die Maßnahmen etwa zur Bekämpfung der Black Panther Party sprengten vollständig die Legalität, wo sie es nicht vorher schon getan hatten. Nur aufgrund dieser aufgeheizten Situation ist erklärbar, weshalb eine junge Frau, die zufälligerweise schwarz und die Mitglied der Kommunistischen Partei war, die darüber hinaus engeren Kontakt zu einem inhaftierten Mitglied der Black Panther Party hatte, nicht einfach nur ins Visier des FBI geriet; nur so ist erklärbar, warum diese junge Frau mit einer so haarsträubenden und bedrohlichen Anklage konfrontiert werden konnte.
Angela Davis hat erst einmal nichts anderes gemacht, als sich in die Kämpfe ihrer Zeit einzumischen. Sie hätte es ebenso gut auch lassen und ihre akademische Karriere verfolgen können, und für den Erfolg als Akademikerin hätte ja eine Menge Gründe gesprochen. Aber um diesen bequemeren Weg zu gehen, hätte sie viel verdrängen müssen. Nehmen wir nur ihre Kindheit:
Angela wuchs im Süden der USA auf, in Birmingham, Alabama. Es war keine Kindheit in den Slums, sie wuchs in einem Elternhaus auf, das einer Art schwarzer Mittelschicht zugehörte. Aber der Stadtteil, in dem sie aufwuchs, wurde »Dynamite Hill« genannt aufgrund des dort präsenten Ku-Klux-Klan-Terrors. (...) Angela Davis lebte in einem Elternhaus, das ihr das Bewusstsein gab, dass gegen Rassismus gekämpft werden muss. Dass der Rassismus nicht in Ordnung sein kann. Ihre Mutter engagierte sich in Organisationen, die den Kampf gegen den Rassismus führten, auch zusammen mit Mitgliedern der Kommunistischen Partei. Von daher kamen die ersten Erfahrungen über die aktive Rolle, die Frauen in kämpferischen Auseinandersetzungen spielen.
Als eine andere Prägung stellt sich die Zeit der High-School und ihres Studiums dar. Die High-School war keine staatliche Schule, sondern eine private. Genauer, es war die private Fortführung eines einstigen schulpolitischen Experiments, das aber während der McCarthy-Zeit beendet wurde. In dieser Zeit gab es nun aber viele arbeitslose fortschrittliche Lehrerinnen und Lehrer, und diese Lehrerinnen und Lehrer haben das Projekt auf privater Basis weiter-geführt. (...) Hier kam Angela Davis in Berührung mit dem Marxismus und begann, sich politisch zu engagieren.
Ihre Studienzeit schloss zwei Aufenthalte in Europa ein. Sie studierte in Paris, um dort einzusehen, dass Philosophie sie mehr interessierte. Zurück in den USA studierte sie bei Herbert Marcuse, der sie nach Frankfurt am Main vermittelte. Dort studierte sie bei seinen alten Kollegen Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Jürgen Habermas. Gleichzeitig engagierte sie sich wieder politisch, vor allem im SDS. 1967 kehrte Angela Davis in die USA zurück, um an den Bürgerrechtskämpfen teilzunehmen. (...)
Ein Rassismusbegriff, der auf die Gesellschaftsstrukturen selbst abzielt, wird immer wieder bei der Konsequenz landen, dass Aufklärung wichtig ist, und zwar eine Aufklärung, die das Falsche in den Strukturen der Gesellschaft bewusst macht. Das ist nun alles andere als altbackener Liberalismus.
Geht man aber über zu einer derartigen, ich würde sagen: materialistischen Auffassung von Ideologie und Gesellschaftsstruktur, stellt sich immer auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen kapitalistischer Ausbeutung, Rassismus und Geschlechterproblematiken. (...) Herrschaftsstrukturen im modernen Kapitalismus äußern sich immer im Lohnarbeitsverhältnis, aber auch in der Unterdrückung von Frauen und in rassistischen Praktiken.
Die Unruhen in London und in anderen englischen Städten, die für viele Linke hierzulande nicht ganz verständlich schienen, weil so etwas wie politische Forderungen nicht erkennbar waren, entzündeten sich an der Tötung eines Migranten durch die Polizei, die nie aufgeklärt wurde. Was dabei in den deutschen Medien unterging - in den letzten Jahren gab es im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland viele ungeklärte Todesfälle im Polizeigewahrsam. Das wäre an sich schon beunruhigend. Dabei handelt es sich aber fast ausschließlich um Migrantinnen und Migranten bzw. - wie man vornehm in Deutschland sagt - Menschen mit Migrationshintergrund. Die Riots waren Ausdruck des Umstands, dass für viele Menschen der britische Rechtsstaat ein Repressionsstaat geworden ist, in dem ihre Rechte nicht viel zählen. (...)
Angela Davis hat als Theoretikerin diese Problematik immer wieder untersucht. Und sie hat sich einem weiteren Problem zugewandt: der Funktion des Gefängnisses. Seit Foucault wurde eine Sicht auf Einrichtungen wie Gefängnisse in Umlauf gebracht, die das System des Strafens als Bestandteil eines Regimes der Disziplinierung, des Überwachens, des Ausschlusses von Menschen aus der bürgerlichen Gesellschaft versteht, deren reibungsloses Funktionieren abgesichert werden soll. Angela Davis untersucht einen weiteren Aspekt: Das Gefängnis wird seinerseits wieder zum Gegenstand kapitalistischer Verwertung. Das ist der Absatz von Waren, die im Gefängnis benötigt werden, das ist aber auch die Bereitstellung von billigen Arbeitskräften. Sie spricht von einem gefängnis-industriellen Komplex. Der Staat organisiert durch das Gefängnis eine Nachfrage und eine billige Herstellung. (...) Angela war selbst inhaftiert, um nach 16 Monaten Untersuchungshaft von allen Anklagepunkten freigesprochen zu werden. Schon vorher war sie in der politischen Gefangenenarbeit aktiv. Das war das vielleicht wichtigste politische Arbeitsfeld vor ihrer Verhaftung. (...)
Ich habe vorhin erwähnt, dass Angela Davis bequemere Wege hätte gehen können. Sicher, es gab Prägungen, aber die legen uns nicht fest. Wir können uns unterschiedlich entscheiden, trotz der Prägungen, ja sogar aufgrund der Prägungen. So wie wir uns zu ihnen verhalten, können wir uns auch zu Institutionen insgesamt verhalten. Darin unter anderem besteht unsere Freiheit. In diesem Sinn ist sie auch Voraussetzung jeder Befreiung. Diesen Satz, dass Befreiung Freiheit voraussetzt, habe ich übrigens bei Marcuse gelesen, einem der akademischen Lehrer von Angela Davis.
Liebe Angela, Du hast Dich aus freien Stücken zu einem Kampf mit sehr hohen Risiken entschieden. Das erfordert hohen Anstand und großen Mut. Dafür bewundere ich Dich, dafür bewundern wir Dich. Danke.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!