Stimmung unter null
Vom Steckenbleiben mitten im S-Bahnchaos
»Da brauchen'se jar nich erst hochjehn, da fährt eh nüscht«, ruft eine ältere Frau den Menschenmassen entgegen, die ihr am S-Bahnhof Friedrichstraße auf der Treppe entgegenströmen. Unterschwellig klingt in ihren Worten eine seltsame Gelassenheit mit. Hier spricht die Resignation des Berliner S-Bahnfahrers. Einige drehen sofort um. Für die Mehrheit der ungläubigen Skeptiker bringt der Weg zum Bahnsteig die Ernüchterung: »Kein Zugverkehr«, steht da auf den Anzeigen in beide Richtungen.
Auf absehbare Zeit herrscht totaler Stillstand, erklärt die Durchsage. Der Grund sei eine »größere technische Störung«. Einzelne machen es sich am Geländer und auf den Bänken gemütlich, andere folgen der Bitte der Lautsprecherstimme, das S-Bahn-Netz mit der BVG zu »umfahren«. »Und was ist mit dem Regionalexpress, fährt der wenigstens?«, fragt eine Frau in die Runde. Schulterzucken. Von S-Bahnmitarbeitern keine Spur. Wieder andere wollen all dem Treiben keinen Glauben schenken und steigen trotzdem in die S-Bahn ein, die bereits seit Minuten regungslos dasteht.
Glücklich sind die, die überhaupt die Möglichkeit haben, auf andere Verkehrsmittel auszuweichen. Im Internet ruft ein Radiosender zur Liveberichterstattung aus den S-Bahn-Zügen auf, um 12.40 Uhr heißt es: »Greifswalder Straße - seit 45 Minuten! Stimmung unter null.«
Auf manchen Strecken werden schließlich am frühen Nachmittag die Fahrgäste aus den stillstehenden Bahnen evakuiert, Waggon für Waggon. Während zwei Stunden Wartezeit melden sich jedoch auch auch menschliche Bedürfnisse. Als in einer S-Bahn auf freier Strecke für einen kurzen Moment die Türen geöffnet werden, weil ein Fahrgast dringend seine Notdurft verrichten muss, »fliehen« andere.
Wer kann, macht sich auf den Weg zu U-Bahn, Bus und Tram. Am Alexanderplatz dann angespannte Stimmung: »Jetzt reißt euch mal alle zusammen«, brüllt einer, der von mehreren Menschen hintereinander angerempelt wird, weil er sich nicht der Fließgeschwindigkeit der Masse anpasst. In der U 5 in Richtung Hönow beispielsweise entlädt sich die Gereiztheit zwischen zwei älteren Ehepaaren, die sich gegenübersitzen. »Jetzt starren Sie mich nicht die ganze Zeit so komisch an, ich sehe doch auch nur hinter Ihnen aus dem Fenster«. Dort rauschen immer mehr Menschen vorbei und drängen sich zwischen die Blick-Fronten der Streitenden in den langen U-Bahn-Schlauch.
Über den Kommentar, »die S-Bahn wollte doch nur schon mal üben, bevor der erste Schnee fällt«, konnten gestern wohl nicht viele lachen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.