So ein Kitsch!
Warum die Weihnachtswelt plüschig sein darf - ein Plädoyer
Die einen hassen ihn, die anderen lieben ihn. Jeder aber, der sich durch die Straßen bewegt, wird ihm unweigerlich begegnen - dem Weihnachtskitsch. Überall die gleichen Bilder, als wäre das Leben ein einziges langes Kamingespräch zwischen rot gekleideten Großvätern und pausbackigen Kindern. So ein Unsinn!, mag der Vernünftige da ausrufen. Aber der Mensch ist eben kein reines Vernunftwesen. Er hat kindliche Wünsche und irrationale Gefühle. Und darum eine Schwäche für Kitsch.
Gerade zu Weihnachten ist Kitsch öffentlich legitimiert wie kein zweites Mal im Jahr. Ganze Marktplätze, Straßenzüge und Vorgärten verwandeln sich in funkelnde Mini-Disneyländer. Wir ertragen lächelnde Engelsfiguren auf Tassen und Kalendern, obwohl religiöses oder gar esoterisches Empfinden in unserem Alltag sonst wenig Platz hat. Als modern gilt landläufig, was vernünftig, hoch poliert und metallglatt ist. Die weihnachtliche Dekoration hingegen bemalt die Welt mit einem Zuckerrand, wie ihn Lebkuchenherzen haben. Was uns in den Kaufhäusern dargeboten wird, ist eine mit Kunstschnee bestäubte Gegenwelt, in der alles plüschig, glitzernd und freundlich ist.
Doch was ist so falsch an ein bisschen Gegenwelt? Und wann, wenn nicht zu Weihnachten, ist die Zeit, sich einmal die Frage zu stellen, warum wir Kitsch brauchen?
Über Kitsch wurde schon geschimpft, bevor das Wort überhaupt erfunden war. Schon in der Aufklärung wurden Gefühlsdarstellungen und die aufkommende Unterhaltungskultur kritisiert. Schiller empörte sich über das »Pathetische«, das dem herrschenden Geschmack schmeichele, den Geist jedoch leer ausgehen lasse. Und gemeinsam mit Goethe trennte er den »Dilettantismus« säuberlich von der Kunst. Dieser Gestus schwingt bis heute mit.
Kein Wunder, kam das Wort Kitsch überhaupt erstmals in der Künstlerszene des späten 19. Jahrhunderts auf. Dort diente es als Abwertung und Abgrenzung zu früheren Künstlergenerationen. Sozusagen als Gegenstück zur Avantgarde. Darüber hinaus wurde es schnell zum Schlagwort für massenhaft verbreitete Produktion und Kunstgewerbe. Die sprachliche Herkunft ist aber bis heute unklar. »Verkitschen« heißt im Schwäbischen Wörterbuch von 1904 so viel wie »auf listige Weise Kleinhandel betreiben«, und der Künstler Eduard Koelwel war der Meinung, es sei von der »Kitsche« abgeleitet, einem Gerät, das im Straßenbau zum Glätten von Oberflächen verwendet wurde.
In jedem Fall sind es von jeher zwei edle Ritter, die den Kitsch jagen - das Kunstideal und die Konsumkritik. Beide kämpfen auch heute noch in Hörsälen, Redaktionen und auf Empfängen gegen den minderwertigen Geschmack der kapitalistischen Gesellschaft. Nicht zu unrecht, aber mit einer durch ihr Visier eingeschränkten Sichtweite.
Warum bleiben altersgraue Paare in Fellmantel und Anzug vor den Schaufenstern der Galeria Kaufhof stehen, um verträumt das Kuscheltier-Wunderland zu betrachten? Warum gibt es jedes Jahr Weihnachtsfilme, die nach dem gleichen Fließbandmuster von Nächstenliebe und Nordpolwelten erzählen?
Weil der Mensch Trost sucht, in einer harmonischen Welt, die er überblicken kann. Was dem Kitsch als Übel angelastet wird, nämlich die Tatsache, dass er sich vorgefertigter Gefühle bedient und auf den reinen Effekt abzielt, wird zur Erleichterung. Vorhersehbarkeit schafft Sicherheit.
Zaghaft erlaubte sich schließlich auch die Kitschforschung einen freundlichen Blick auf ihren Gegenstand. Der Literaturhistoriker Erwin Ackerknecht gestand ihm zu, eine ähnlich »aufbauende Wirkung« haben zu können wie die Kunst: »Erfrischung der Vorstellungskraft, Lösung der durch die Zwangsläufigkeit des Zweckdenkens bewirkten Verkrampfung, Erhebung über den Alltag, seelisches Aufatmen.«
Das gilt natürlich nicht für jede wild blinkende Lichterkette oder jeden Plastikweihnachtsmann, der sich die Hauswände emporhievt. Doch so manches Kitschobjekt beflügelt die Vorstellung, weil es das Gefühl für Mythen und Märchen anspricht oder die Erinnerung an vergangene Zeiten und alte Brauchtümer weckt. Dazu müssen wir gar nicht viel über sie wissen.
Schwibbögen zum Beispiel funktionieren heute ähnlich wie im 18. Jahrhundert. Damals waren sie überwiegend mit dem Leben der Bergleute verknüpft, stellten deren Arbeitsalltag dar und leuchteten ihnen den Weg nach Hause. Die Kerzen symbolisieren auch für den großstädtischen Büroangestellten die Sehnsucht nach Tageslicht und Geborgenheit. Und das Tannengrün, das wir uns in die Häuser holen? Eine uralte kultische Handlung, immergrüne Pflanzen stehen seit jeher für Lebenskraft. Der gläserne Baumschmuck schließlich hat die Äpfel und Süßigkeiten ersetzt, mit denen man auf mittelalterlichen Festspielen den »Paradiesbaum« schmückte und bis ins 19. Jahrhundert die Tannenbäume.
Viele heutige Gegenstände sind Kitsch, weil ihnen der Inhalt abhanden kam. Aber selbst so manche leere Hülle erreicht das, was Medientheoretiker Vilém Flusser »Vergangenes vergegenwärtigen« nennt - Vergangenheit ist stets auch wunderbare Projektionsfläche für den Wunsch nach heiler Welt. Zu diesem dürfen wir uns bekennen. Und dazu, ab und zu vor der Realität flüchten zu wollen.
Seit den 1970er Jahren ist Kitsch ohnehin salonfähig geworden und hat sich mit der hohen Kunst vermischt. Bestes Beispiel ist Jeff Koons, mit seinen überdimensionierten Kitschfiguren. Er will den Leuten die »Schuld- und Schamgefühle« nehmen, die ihnen »ihre eigene Banalität einflößt«.
Sehen wir Weihnachten also als Übung, um mehr Verständnis für Kitsch zu entwickeln - um gerade in Anbetracht überbordender Geschmacklosigkeit die Nerven zu behalten. Übrigens: Walter Benjamin, anerkannter Kunstphilosoph und Kritiker, sammelte begeistert Schneekugeln. Vielleicht zu Forschungszwecken. Wahrscheinlich aber aus reiner Freude am Kitsch.
Zum Weiterlesen: Ute Dettmar u.a. (Hg.): Kitsch. Texte und Theorien. Reclam, 320 S., brosch., 9 €.
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