Wenn es um gar nichts mehr geht
Grass, Osten, Literaturstreit, Masken statt Gesichter
Seit dieser Spielzeit ist Martin Kusej Intendant des Münchener Residenztheaters. Dieser Regisseur ist ein Kraftkerl und Konsenssprengmeister. Jede Flauschigkeit löst er mit Bitterstoffen auf. Mit feinbürgerlichen Erwartungen an ein Theater eingängiger Wohllaute betreibt er gnadenlos Folter. Sein Klarblick ist hart, ergreifend kriegerisch seine Ansage gegen den Zustand von Welt und Seelen. So wurde mit gewissen Befürchtungen seiner Eröffnungsinszenierung entgegengesehen, Arthurs Schnitzlers »Das weite Land«.
Die Reaktionen: zwischen Verwunderung und Enttäuschung: Der Abend sei angriffsmüde. Nichts zu spüren von dem, was doch Kusejs künstlerischen Ruf präge. Aber ebenso wenig sei das Wesen des Stückes spürbar. Es geht darin um Liebesverrat und Liebesmord, um all die Unkontrollierbarkeiten einer Leidenschaft, in der Vertrauen aufglüht und verbrennt und alle Nähe zu anderen Menschen zum aufgeheizten Prüffeld für Charakter, Treue und Sinnbestand wird.
Kusej provoziert mit Lauheit. Metronom statt Melodie. Aber ist nicht gerade dies die bösest mögliche Wahrheit?
Denn: Es geht heute um nichts mehr. Verrat. Na und? Mord. Na und? Lüge. Na und? Masken statt Gesichter. Na und? Ehre? Lächerlich. Gespräch? Nein, nur Geplänkel aneinander vorbei. Schmerzzufügung als Zeitvertreib? Ja, toll, und immer gut verkäuflich. Werte, die einst noch in der Verwerfung ein Flehen, einen Schrei schickten: Bei Kusej sind sie tot und werden nicht mal vermisst. Er zerschlägt keine Spiegel, er hält sie vor.
Auch das Gedenken an Christa Wolf, in der vergangenen Woche, war ein Beitrag zum Thema. Günter Grass zürnte in der Akademie der Künste wider jene Journalisten, die nach dem DDR-Ende eine frühe Stasi-Zuarbeit der Schriftstellerin zur Rufmord-Kampagne gesteigert hatten. Grass griff zu deutlichem Vokabular - aus einem Wortschatz, der trefflich auch die Inquisition hätte erklären können. Er konnte Gründe für seine Heftigkeit anführen - selbst in die ersten schnellen Agentur- und TV-Nachrichten hinein, wo (noch) kein Raum war für die erweiterte bio-bibliografische Auskunft über Christa Wolf, hatte es der Stasi-Kasus freilich umgehend geschafft, zu bevorzugter Meldungspräsenz zu gelangen.
In Gegenkommentaren wird Grass nun vorgeworfen, er diffamiere etwas, das doch damals nichts weiter gewesen sei als ein »Literaturstreit«. Gestus: Wie kann man nur so empfindlich sein, selbstgerecht gar; Kritik muss man doch ertragen können, es lebe der forsche kühle Umgang mit (fremder!) Schuldigkeit. Wie war das bei Kusej? Es geht um nichts mehr, und dafür wagt man alles. Gesprächsstoff muss her! Und wenn dabei etwas in einem Menschen zerstört zu werden droht - bitte, nicht immer alles so persönlich nehmen! Ach ja, und ausgerechnet Grass! SS lässt grüßen ...
»Die »Welt« zitiert aus Christa Wolfs Buch »Was bleibt« aufschlussreich dies: »Wir, angstvoll doch auch, dazu noch ungläubig, traten immer gegen uns selber an, denn es log und katzbuckelte und geiferte und verleumdete aus uns heraus, und es gierte nach Unterwerfung und Genuss.« Wenn ich das lese, denke ich natürlich an die DDR, und dieser an sich selbst zugrunde gegangene Press-Apparat ist ja auch gemeint - aber nicht an Christa Wolf denke ich, sondern ans Eigene, denke ans Eigene unter dem Diktum aller guten Literatur. Die nämlich löst des Lesers Frage an den Dichter aus: Woher weiß der das von mir?
Wenn also selbst eine Mutige, Selbstzweifelnde, kollektiv nie Vernutzbare wie Christa Wolf so beschämt und hart, via Kunstgestalt, sich mit einzeichnet ins Bild der Mitlaufenden - zu welchen Worten müsste greifen, wer doch viel tiefer in der willigen Masse jener bewussten, bewusstseinsvergatterten Dulder und Macher huschte, harrte, herrschte.
Da steht unsereins dann schon seltsam angegriffen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, ist selbst nach über zwei Jahrzehnten und beglückendem Wandel der Zeiten ein wenig dankbar für gesichtsbergende Rettungsschirme, unter die man wegen des Regens geriet, und erinnert sich daran, dass man journalistisch einst einer DDR-Zeitung inniglich angehörte, die eine Christa Wolf jahrelang, und das laut tönend, aus ihren Spalten verbannte. Als habe das berüchtigte ZK-Plenum aus den Sechzigern einen verbalterroristischen Wiederbelebungsgruß in die mittleren Achtziger geschickt.
Was aber so ausdauernd irritiert: Dieses »Woher weiß der Dichter (oder eben die Dichterin) das von mir?« scheint immer und einzig ein Ost-Problem zu sein. Wie war doch das Wort? Literaturstreit! Muss es da nicht zuvörderst um einen Streit gehen, den man mit sich selber austrägt, veranlasst durch Literatur?
Grass, so »Die Welt«, habe in seiner Rede postuliert: Nur die damals dabei gewesen seien, dürften die »gläubig eingeschlagenen Irrwege« der Christa Wolf beurteilen. Nein, das wäre fatal, wäre das Ende jedes lebendigen, weil weiterschreibenden Geistes. Aber dieses Dabeigewesensein, das ist doch nichts, was sich auf DDR beschränkten müsste - wie wär's denn mal mit Gedanken zu einem Dabeigewesensein beim Katzbuckeln oder Unterwerfen oder Lügen auch im Westen (und das in Abwesenheit einer Diktatur!)? Und dann also das schöne Erstaunen darüber, dass man, von diesem Westen aus, durchaus auch eine Dichterin des Ostens fragen kann: Woher weiß sie das von mir? Und dann würde man vielleicht nicht mehr so von oben und von fern über Fremde richten, sondern leise, und erhitzt womöglich, über sich selbst reden.
Die Schriftstellerin Irina Liebmann, Tochter des einstigen, von seiner eigenen Partei vertriebenen ND-Chefredakteurs Rudolf Herrnstadt, schrieb soeben in der »Berliner Zeitung«, mit Christa Wolf sei etwas »Mütterliches in die Welt« gekommen. »Etwas Weiches und Verbindendes, was ja eine Rettung sein könnte in solcher Bürgerkriegswelt der männlichen Helden, und sei's auch nur der Helden auf dem Papier.« Liebmann erinnert sich ihrer vergeblichen Hoffnung, mit dem Ende der DDR könne es zu einer »Zeit der gegenseitigen Aufklärung« kommen, Hoffnung auf »eine Zeit der Ergänzung des fehlenden Wissens, der fehlenden Erfahrungen auch, und dieses Zuordnen, Abwerten und Sich-selber-Herausstreichen hätte ein Ende«. Nichts da.
Literaturstreit?! Das ist selten Diskurslust gewesen. Man schiebt die geistige Bewegung vor, um Menschen ein bisschen quotenschnappend festzunageln. Sie anzukratzen. Man hat's doch mehrfach versucht: bei Christoph Hein, als er Intendant des Deutschen Theaters werden wollte; und plötzlich stand auch Volker Braun, wegen eines Gedichts zur Mauer, am publizistischen Pranger. Diese Mühe, die man dabei auf eigene Unangreifbarkeit verwendet!
Allein solche Kapitelchen wie das vom tonangebenden bundesdeutschen (ja, freien!) Journalismus und dessen Wandel - in der Einschätzung etwa von Afghanistan- oder Irakkrieg: Welch nachprüfbarer Windungsreichtum in den Kommentaren, bis endlich hin zu jenem späten ersten Satz, darin, zunächst noch schüchtern, dies jetzt doch so überaus geläufige Wort »Krieg« vorkam. Im »Spiegel« stand, Deutschland sei seit Jahren in einen Krieg verwickelt. »Erst hat dies kaum einer so richtig gemerkt ...« Man hätte es merken können, hätte man nur gewollt. Und die es »richtig« merkten und es beizeiten laut sagten, Künstler, Publizisten, linke Politiker? Niedergeschrieben, niedergeschrien. Von Patrioten. Manchmal ist auch Patriotismus Katzbuckeln.
Oder der Umgang mit dem Wort »Kapitalismus«: jetzt dergestalt, als sei der kritische Ton, die Marktkritik, gar die Untergangsahnung, schon immer ein innerer Auftrag gewesen. Geschichten von munterer Apologetik könnten da erzählt werden, in denen ebenfalls Katzbuckeln, Unterwerfung, Lügen vorkämen. Erzählte man sie: Schon bewegte man sich - auf andere, aber gleich menschliche Weise - auf jenen Irrwegen, die auch Christa Wolf bewegten. Mit einem Mal, unterm Gebot der Selbstprüfung, stünde man auf keiner anderen Seite als der eigenen, der schwierigsten.
Aber es geht eben um nichts mehr, außer: verächtlich machen, bloßstellen, den folternden Wassertropfen immer auf die gleiche Bewusstseinsstelle der anderen hämmern lassen; alles egal, das Gefühl meist Fassade; man befindet sich in durchgehender Geschäftszeit fürs Verkaufen von Unterhaltsamkeit und Aufregung. Man verletzt. Um sich danach selbstverständlich wieder ungerührt zusammenzuplaudern, zusammenzutalken. Als sei nichts geschehen. Vom Leder ziehen? Gern. Aber lass abperlen, was dir selber unter die Haut will.
Wieder darf an Kusej gedacht werden. Und unlängst stand in der »Süddeutschen Zeitung« ein Porträt über den »Spiegel«-Autor Stefan Berg. Er ist an Parkinson erkrankt, die Reportage von Renate Meinhof entwirft das genaue Bild einer umdenkenden Einkehr - im Angesicht einer Lebenszeit, die unerbittlich Frist wird. Er schrieb ein Buch über seine Krankheit, unweigerlich kommt da auch das flotte, frostige mediale Geschäft zur Sprache, von Berg bislang kaum reflektiert. Zufällig begegnet er seinem einstigen Chefredakteur. Renate Meinhof schreibt:
»Neulich ist Stefan Berg vom Pariser Platz mit der Bahn zum Hauptbahnhof gefahren. Der Waggon war fast leer, und sofort erkannte er die Stimme des Mannes, der da ins Handy sprach, Stefan Aust, der ihn damals eingestellt hatte. Aust legte auf.
›Mensch, Berg, habe gehört, dass es Sie ganz schön erwischt hat‹, sagte die Stimme nun und setzte sich Berg gegenüber. ›Also da merkt man doch erst mal, was im Leben wirklich wichtig ist …‹.
Berg setzte zur Antwort an.
›Und? Berg? Wie ist die Auflage?‹, schoss es nach. Da stoppte die Bahn. Sind ja nur zwei Stationen. Berg hatte es eilig, zum Zug zu kommen ...« (Süddeutsche Zeitung, 15. September 2011).
In wenigen Sätzen alles. »Es tut not«, so Arthur Schnitzler 1928, »aus dem Dickicht aus Schwäche, Egoismus und Glücksgier zurückzufinden zu ethischer, moralischer Verbindlichkeit und Wesentlichkeit. Darum geht es.« Darum geht es längst nicht mehr. Vieles wurde Spiel, in das man brillant hineinspringt und bei dem man gleichzeitig, noch brillanter, draußen bleibt. Das Leben: ein weites Land - aus Folien. Schöne Gegenden sehen anders aus.
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