Revolte oder Reformen in Russland?

Versuch einer Analyse der Protestbewegung nach den Dumawahlen

  • Kai Ehlers
  • Lesedauer: 5 Min.
Nach den Moskauer Großdemonstrationen am 10. und am 24. Dezember bereitet die russische Opposition weitere Proteste gegen die offiziell verkündeten Ergebnisse der Dumawahlen vom 4. Dezember vor. Steht Russland eine Zeit permanenter Revolten bevor? Wer geht da auf die Straße und mit welchen Zielen?

Sind diejenigen, die da in Moskau und anderen Städten demonstriert haben, der Kern der russischen Zivilgesellschaft? Zehntausende wurden wie aus dem Nichts durch das Internet und systemkritische Kleinstmedien mobilisiert, um gerechte Wahlen, ein Ende der Korruption, Meinungsfreiheit und generell ein Ende der »gelenkten Demokratie« zu fordern. Das lässt Vorstellungen von einer außerparlamentarischen Opposition nach westlichem Muster aufkommen.

Bei genauem Hinsehen trübt sich das Bild allerdings: Zwar war das Gesamtbild der Züge von liberalen Forderungen bestimmt - das ist eine wichtige Botschaft für Russland. Aber Freiheit für wen, Gerechtigkeit für wen, Herrschaft für wen? Nach Medienberichten wurden so gut wie keine sozialen Losungen gezeigt. Massenhaft zu sehen waren aber, neben den liberalen Forderungen, auch antikaukasische, nationalistische Parolen und Embleme rechter Gruppen. Das gibt zu denken, nicht zuletzt deshalb, weil auch die KPRF zu den Protesten aufgerufen hatte.

Analytiker sprechen von Russlands »neuer Mittelklasse«. Einheimische Beobachter berichten, man habe keine Arbeiter auf dem Platz gesehen, sie sprechen daher von einer Demonstration der Satten, also derer, die zum Konsum nun auch das Recht auf Selbstverwirklichung fordern. So wie auf Plakaten zu lesen war: »Ich will mein Recht!«

Einen besonderen Platz im Bild der rechten Ausleger nimmt der Blogger Alexej Nawalny ein. In den Medien wird er als einer der wichtigsten Organisatoren der Opposition gefeiert. Aber bitte: Im Oktober 2011 trat derselbe Nawalny in Moskau als Teilnehmer des »Russischen Marsches« hervor, zu dem sich Russlands antikaukasische, nationalistische und offen faschistische Rechte seit Jahren zusammenrottet. Unter Losungen wie »Es reicht, den Kaukasus zu füttern!« hatte er selbst zu dem Marsch aufgerufen und dort geredet. In einem Video vergleicht er militante Kaukasier mit Kakerlaken, die nicht mit einer Fliegenklatsche oder einem Pantoffel, sondern nur mit einer Pistole zu bekämpfen seien.

Die Frage nach den anderen Organisatoren führt tief in das zerstrittene und zugleich um ihr gemeinsames politisches Überleben kämpfende Lager einer Opposition, die seit dem Niedergang der Liberalen am Ausgang der Jelzin-Ära und nach deren Ausscheiden aus der Duma bei den Wahlen 2004 nur ein Ziel kennt: Putins Sturz und die Wiedereinführung jener »Freiheiten«, die Putin im Zuge der von ihm eingeleiteten restaurativen Stabilisierungspolitik abschaffte. Spitze Zungen sprechen von einer Versammlung politischer Bankrotteure, die nur eines verbinde: das Scheitern ihrer liberalen Konzeptionen und der Hass auf Putin, der den Liberalismus der Jelzin-Ära stoppte. Ein darüber hinausführendes gemeinsames Programm gebe es nicht.

Treibende Kraft dieser Gruppe ist Solidarnost, ein Bündnis von Ultraliberalen, ehemaligen Funktionären der Jelzin- und der frühen Putinzeit. Führend darin Boris Nemzow, Vizepremier unter Jelzin, Michail Kasjanow, Ministerpräsident unter Putin, und Garri Kasparow, ehemaliger Schachweltmeister, der sich den Sturz Putins zum Lebensziel gesetzt hat. Sie agieren in einem Umfeld sogenannter »heterogener Kräfte«. Deren Einzugsbereich reicht von linksradikalen und anarchistischen Putinfeinden, teils durchaus ehrbaren Leuten der menschenrechtlerischen und früheren dissidentischen Szenen, über die verbotenen Nationalbolschewisten um Eduard Limonow bis weit in den rechtsliberalen bis rechtsradikalen Sumpf. Die meisten Personen dieser Szene sind aus dem »Marsch der Unzufriedenen« (zwischen 2005 und 2007 mehrfach wiederholt) und dem 2008 aus dieser Gruppe heraus gegründeten Komitee für freie Wahlen 2008 bekannt.

Bleibt die Frage, ob aus den Protesten eine allgemeine Bewegung hervorgehen und was daraus für die Zukunft Russlands folgen könnte. Zunächst: Nein - es ist nicht zu erwarten, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung mit den Protesten verbindet, auch wenn es weitere Demonstrationen zur Wahl geben wird. Der Liberalismus der Jelzintage ist nicht rückholbar; zu tief sitzt noch der Schock der sozialen und politischen Desintegration jener Zeit. Zu tief ist inzwischen auch, trotz relativer Stabilisierung unter Putin und Medwedjew, die Spaltung zwischen den besser verdienenden und angenehmer lebenden Teilen der Bevölkerung und jenen, die noch immer damit beschäftigt sind, ihren Lebensstandard über der Armutsgrenze zu halten. Für die Mehrheit der russischen Bevölkerung steht die soziale Frage immer noch vor der politischen, das heißt, für sie ist soziale Sicherheit wichtiger als formale Freiheit. Anders und genauer gesagt: Für sie ist soziale Sicherheit Voraussetzung für ihre Freiheit.

Andererseits ist eine Generation von gut verdienenden Städtern und deren Kindern herangewachsen, die die Not der Transformationszeit schon nicht mehr kennen oder gar nicht erst kennengelernt haben. Ihnen reicht die relative Stabilität der Putinschen Restauration als Lebensperspektive nicht mehr aus, mehr noch und sehr problematisch, sie sehen ihren relativen Wohlstand durch Einwanderer aus den ärmeren Teilen der Föderation, aus dem Kaukasus, aus Zentralasien sowie generell aus Süden und Osten bedroht.

Hier deutet sich eine politische Bewegung an, die bereit sein könnte, im Namen der Freiheit die eigenen Privilegien gegen ärmere Teile der Gesellschaft und vor allem gegen Einwanderer zu verteidigen. Beispiele für solche Verwandlungen des Liberalismus in eine fremdenfeindliche, rassistische, antiliberale Kraft sind aus Europa bereits bekannt. Diese Tendenz könnte auch Russland erreichen.

Das vorsichtige Agieren der Staatsmacht gegenüber den Protesten weist darauf hin, dass die herrschenden Kreise Russlands dies als Gefahr für den Fall erkannt haben, dass es ihnen nicht gelingt, die Proteste in einen neuen gesellschaftlichen Konsens zu integrieren. Der mag nationaler oder liberaler ausgerichtet sein als zur Zeit, eins ist unübersehbar: Die Zeiten, in denen es möglich war, von oben einen Blitzableiter zu installieren, an dem Proteste oder Alternativen sich totlaufen, sind mit Sicherheit vorbei, auch wenn die Proteste vorläufig wieder abebben sollten.

Wer immer im Frühjahr 2012 Präsident werden wird, muss eine echte Integrationsleistung vollbringen. Recht verstanden, liegt darin Russlands einzige Chance.

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