»Nach den lebendigen Steinen schauen«

Ministerin Khouloud Daibes Abu Dayyeh: Palästina darf keine Zeit mehr verlieren

  • Lesedauer: 6 Min.
Khouloud Daibes Abu Dayyeh (46) ist palästinensische Ministerin für Altertümer und Tourismus. Die parteilose Politikerin hat an der Universität Hannover Architektur studiert. Seit März 2007 ist die Mutter von drei Kindern im Amt. Johannes Zang hat die einzige Christin im palästinensischen Kabinett zum Regieren unter einer Besatzung, der israelischen Sperrmauer und zu ihren Hoffnungen für das Jahr 2012 befragt.
Khouloud Daibes Abu Dayyeh
Khouloud Daibes Abu Dayyeh

nd: Vor zehn Jahren tobte die zweite Intifada in Bethlehem - wie ist die Lage heute?
Khouloud Daibes Abu Dayyeh: Bethlehem ist heute offen und zugänglich für Touristen und Besucher, auch wenn die Stadt mit einer Mauer umgeben ist. Nach einem Rekordbesuch von etwa zwei Millionen Touristen in Bethlehem 2010 herrschte schon ein wenig Sorge, dass dies bloß ein einmaliger Erfolg gewesen sein könnte. Unsere bisherigen Daten legen aber den Schluss nahe, dass wir 2011 die Zahl von 2010 sogar noch übertroffen haben.

Sie haben die Sperrmauer angesprochen: Der evangelische Pfarrer Mitri Raheb hat errechnet, dass durch den Zickzackverlauf der Mauer allein im Bezirk Bethlehem Grundstücke von Palästinensern im Wert von umgerechnet 27 Milliarden US-Dollar verloren gingen.
Bethlehem ist sehr stark von der israelischen Siedlungspolitik und der Landenteignung betroffen. Gerade jetzt, wo in Cremisan (Weinkellerei der Salesianer - J.Z.) und Walajeh (palästinensisches Dorf bei Cremisan - J.Z.) der Prozess der Enteignung läuft, werden viele Familien ihr Land, ihre Arbeit oder ihr Einkommen verlieren, auch viele christliche Familien. Bethlehem ist überdies relativ isoliert, Bewegungsfreiheit ist kaum gegeben. Dadurch wurden viele Wirtschaftsbereiche regelrecht zerstört. Die meisten Textilfabriken haben geschlossen, das war im Raum Bethlehem einmal eine sehr wichtige Industrie.

Spürte man trotz Siedlungsbaus, Landenteignung und vieler bürokratischer Maßnahmen, etwa in Form von verweigerter Familienzusammenführung, Weihnachtsstimmung in Bethlehem?
Ja, schon. Weihnachtsmärkte wurden organisiert, es wurde dekoriert. 2010 hatten wir unsere Besucher zu Weihnachten gebeten: Pray for the Freedom of Palestine - betet für die Freiheit Palästinas. Diesmal wollten wir eine Botschaft der Hoffnung senden, obwohl wir noch keinen Staat haben und unsere Bemühungen bei den Vereinten Nationen noch nicht dazu geführt haben, dass wir die Vollmitgliedschaft bekommen haben.

Den Schritt vor die UNO hat Palästina teuer bezahlen müssen: Die USA, Kanada und Israel haben ihre Beitragszahlungen an die UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) eingestellt; Zölle und Steuern im Wert von umgerechnet etwa 100 Millionen Dollar, die Israel als Besatzungsmacht für die Palästinenser erhebt, wurden vorübergehend einbehalten.
Das sind unsere Gelder, aber wir stehen eben unter Besatzung. Wir werden kollektiv dafür bestraft, dass wir die Vollmitgliedschaft in der UNESCO bekommen haben. Dies hat uns in eine sehr schwierige finanzielle Situation gebracht, was besonders die Zahlung der Gehälter für unsere Mitarbeiter betrifft.

Immerhin ist Palästina nun Mitglied der UNESCO.
Palästina hat sein erstes Weihnachten als vollwertiges Mitglied der UNESCO gefeiert. Wir haben jetzt bessere Chancen auf Anerkennung unserer zahlreichen kulturellen, historischen, archäologischen und religiösen Stätten als Weltkulturerbe. Es wird Palästina helfen, diese Orte zum Wohle unserer vielen Pilger zu bewahren. Unser Wunsch auf Vollmitgliedschaft in den Vereinten Nationen und Eigenstaatlichkeit ist aber immer noch in der Schwebe.

Was sollten da die Politiker in Deutschland, in Europa, in der weiten Welt Ihrer Ansicht nach tun?
Keine Zeit mehr verlieren, wenn wirklich die Zwei-Staaten-Lösung noch möglich sein sollte - mit jedem Tag, den wir verlieren, wird die Chance auf eine solche Lösung geringer. Das palästinensische Volk verdient ein besseres Leben, es verdient, wie alle Völker in Würde zu leben, in einem eigenen Staat. Nur das gibt auch eine Garantie für Israels Sicherheit. Man kann von einem Volk unter Besatzung nicht erwarten, dass es die Sicherheit der Besatzer garantiert.

Was regieren Sie unter dieser Besatzung?
Wir haben keine volle Kontrolle über unsere Ressourcen, über das C-Gebiet (etwa 60 Prozent des Westjordanlands - J.Z.), über Wasser, Land, touristische Stätten und überhaupt keine Kontrolle über die Grenzen. Jerusalem ist vom Westjordanland isoliert worden. Gaza ist ebenfalls isoliert. Man kann sich nicht frei bewegen. Egal ob Christen oder Muslime, alle leiden unter der Besatzung. Außenstehende vergessen schnell, wenn sie von einer palästinensischen Regierung hören, dass dies eine Übergangssituation nach Oslo (den israelisch-palästinensischen Verträgen nach den Osloer Verhandlungen zwischen 1993 und 1995 - J.Z.) sein sollte - für fünf Jahre. Heute aber, nach so vielen Jahren, haben wir immer noch keinen palästinensischen Staat. Das schwächt die palästinensische Autonomiebehörde sehr.

Was sollte Israel nun tun und was die Palästinenser?
Es war der historische Kompromiss, den die palästinensische Führung damals akzeptiert hat und in dem es auch mit der Hamas in Gaza politische Übereinstimmung gibt: Wir wollen einen Staat auf den 1967 besetzten palästinensischen Gebieten mit Jerusalem als Hauptstadt. Das wäre die Lösung. Man kann nicht von uns verlangen, weitere Kompromisse zu machen. Man soll jetzt endlich praktische Instrumente entwickeln, um diese Lösung in die Tat umzusetzen. Mehr Zeit zu verlieren, dürfte in niemandes Interesse liegen; gerade jetzt, wo die Region kocht.

Sind Sie als Christin von den Kirchen in Europa und Amerika enttäuscht?
(kurze Pause) Enttäuscht ist vielleicht ... Ich versuche, das anders zu beschreiben. Die Christen, die in Palästina, aber auch in der Region leben, sind die ersten Christen. Das sind die Christen, die in Bethlehem mindestens seit der Geburt Christi da sind. Wir sind manchmal traurig, dass man von unserer Existenz eigentlich nichts weiß, dass viele sagen: Ah, es gibt auch palästinensische Christen? Gerade Pilgern, wenn sie zu uns kommen, sagen wir: Man soll sich nicht nur für die religiösen Plätze und Steine interessieren, die wir sehr lieben, ehren und schützen. Dank unserer Existenz sind diese religiösen Stätten und Kirchen nicht Museen geworden, sie sind lebendige Kirchen. Wir wollen auch, dass gerade die Pilger nach den lebendigen Steinen schauen, dass sie mit Menschen zusammenkommen und wissen, was es bedeutet, für mehrere Jahrzehnte unter Besatzung zu leben. Die palästinensischen Christen sind ein integraler Teil der Gesellschaft. Auch wenn unsere Zahl klein ist, sind wir doch überall vertreten: auf allen politischen Ebenen, im Parlament, in der Regierung, in den lokalen Verwaltungen.

Was wünschen Sie sich für 2012?
Ein besseres Jahr, ein ruhiges, gesundes, das wünschen wir uns gerade hier in Bethlehem. Da ich öffentlich tätig bin, hoffe ich, dass wir nächstes Jahr bessere Voraussetzungen haben, um auszuhalten und hierzubleiben; dass wir nicht die Hoffnung verlieren und auch die Energie nicht, an ein besseres Leben zu glauben. In der Politik tätig zu sein, ist sehr schwierig, aber im palästinensischen Kontext ist es ermüdend. Ich will die Hoffnung nicht verlieren auf eine bessere Zukunft für meine Kinder, für alle Kinder in dieser Region. Ich will nicht aufgeben.

Was ist Ihre Botschaft?
Trotz aller Herausforderungen, vor denen Palästina steht, hoffen wir auf eine großartige Zukunft. Eine, in der wir erleben, wie die Geburt unserer Nation genauso gefeiert wird, wie wir die Geburt Jesu Christi in unseren zahlreichen Kirchen und Traditionen in Bethlehem und ganz Palästina feiern werden. Ich lade Sie ein, jederzeit unser wunderschönes Land zu besuchen und die Warmherzigkeit unseres Volkes zu erleben und zu genießen.

Die Geburtskirche in Bethlehem
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