Hungersnot trifft Mexikos Rarámuri
Marginalisiertes indigenes Volk im Norden kämpft ums Überleben
Es brauchte die Nachricht vom Massenselbstmord der Rarámuri im Norden des Landes, um die mexikanische Öffentlichkeit aufzurütteln. Da sie ihre Kinder nicht mehr ernähren konnten, sollen sich mindestens fünfzig Indigene in Schluchten in den Freitod gestürzt haben. So meldeten es soziale Netzwerke in der vergangenen Woche. Auch wenn sich die Suizid-Geschichte als falsch herausstellte, die Tatsache, dass die Rarámuri an Hunger und Kälte sterben, ist wahr. Laut der Bauernorganisation »El Barzón« sind in den vergangenen Tagen in der Sierra Tarahumara im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua mindestens sechs Menschen gestorben. Die Regierung des Bundesstaates bestätigte die entsprechende Meldung. Chihuahuas Gouverneur, César Duarte Jáquez, sprach von 250 000 Gefährdeten. Grund ist Unterernährung wegen der seit mehreren Monaten anhaltenden Dürre - der schlimmsten seit 71 Jahren. Die hat für enorme Ernteausfälle gesorgt. Mehrere Hilfsaktionen sind angelaufen. Tausende Decken, Lebensmittel und Trinkwasser wurden in die Region geschickt.
Bereits in den vergangenen sechs Monaten waren Gelder in historischer Rekordhöhe nach Tarahumara geflossen. Aber es fällt auf, wie wenig Auswirkungen die Sozialprogramme der Regierung haben. Die Frage ist, wie oder ob das Geld überhaupt investiert wurde oder nicht in irgendwelchen Korruptionskanälen verschwunden ist.
Mexikos Präsident Felipe Calderón macht vor allem den Klimawandel für die Probleme verantwortlich und mahnte strukturelle Lösungen an. »Die Arbeit vor Ort reicht nicht aus; es reicht auch nicht aus, Hilfsmittel oder Trinkwasser zu schicken: Es werden langfristige Maßnahmen benötigt, die strukturell und global das Problem der Erderwärmung angehen.«
Doch das Problem liegt tiefer und ist keineswegs neu. Die Rarámuri »sterben jedes Jahr an Hunger; nur dieses Jahr ist es noch schlimmer«, so Liliana Flores, eine der Gründerinnen von »El Barzón«. Die Unterernährung ist die Folge einer Geschichte von Enteignung, Plünderung und kultureller, ökonomischer und ökologischer Unterdrückung, die Jahrhunderte zurückreicht. Was geblieben ist von den Wäldern der Region, beuten heute multinationale Holzkonzerne aus, große und kleine Agrarunternehmen profitieren von der Armut der Gemeinden, Gold- und Silberbergbau haben zwar ein paar Jobs geschaffen, aber keinen gleichmäßigen Wohlstand gebracht. Dazu kommt der Einbruch der Drogenkartelle in die Region, die die soziale Struktur der Gemeinden zerstören, so Héctor Fernando Martínez, Pfarrer der Kleinstadt Creel und Vizevikar der Diözese. Viele verließen aus Angst ihr Land oder bauten lieber Marihuana statt Lebensmittel an. Das sei einträglicher. Nicht weniger Anteil an der Tragödie haben die Korruption, Trägheit und Despotismus lokaler Politiker und die Bundesregierung selbst mit ihrer sprichwörtlichen Taubheit gegenüber den indigenen Gemeinschaften und einer Politik, die aus den vermeintlich Begünstigten vor allem politischen Nutzen in Form von Wählerstimmen ziehen will.
Im Grunde berührt dies die Frage nach dem Verhältnis des Staates zu seiner indigenen Bevölkerung. Bei der Verteilung von Lebensmitteln an rund 1500 Rarámuri im Dorf Sisoguichi hielt Gouverneur Duarte eine emotionale Ansprache. »Ich schäme mich, dass das hier passiert. Ich schäme mich, dass in der Autonomen Universität von Chihuahua bis heute nur eine indigene Frau ihren Abschluss als Anwältin gemacht hat, wo Sie doch die Besitzer dieses Landes sind. Deshalb werden wir grundlegende Lösungen suchen, mit Bildung, Infrastruktur und produktiven Projekten, die Einkommen bringen.« Leider verstanden ihn seine Zuhörer nicht, da die Worte des Gouverneurs nicht in die Sprache der Rarámuri übersetzt wurden. Aber ein Foto bei der Übergabe der Lebensmittel macht sich nicht schlecht.
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