Mörder in weißen Kitteln
Die NS-Vergangenheit der Chirurgischen Gesellschaft
Für die Realisierung ihrer Rassen- und Erbgesundheitspolitik benötigten die Nazis die breite Mitwirkung der Ärzte, des Krankenhauspersonals, der Hebammen und Apotheker. Diese sicherten sie sich über Gesetze und Weisungen, es stießen ihre Intentionen aber auch auf Bereitschaft bei einem großen Teil der Ärzte und der nachwachsenden Absolventen des Medizinstudiums, die von der Ausschaltung der jüdischen Konkurrenz profitierten. 1936 bis 1945 waren etwa 45 Prozent der Ärzte Mitglieder der NSDAP.
Eine besondere Rolle kam den Chirurgen zu. Ihre Dienste waren für die 400 000 Zwangssterilisationen, für Zwangsabtreibungen an Zwangsarbeiterinnen, für die »Euthanasie«-Morde und für die Kriegführung unentbehrlich. 1933 zählte die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 2561 Mitglieder. Die Verantwortung und Schuld einiger iExponenten hat bereits das Buch »Die Charité im Dritten Reich« von Sabine Schleiermacher und Udo Schagen (2008) offenbart.
Nach jahrzehntelangem Schweigen entschloss sich nun endlich auch das Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, einen Auftrag zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in der Nazizeit zu erteilen. Die dankenswerte Forschungsarbeit wurde von Heinz-Peter Schmiedebach und Rebecca Schwoch vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf sowie von Michael Sachs vom Interdisziplinären Facharztzentrum Sachsenhausen/Frankfurt am Main geleistet.
Aufmerken lässt die Einengung des Titels auf »Die Präsidenten«. Das waren von 1933 bis 1945 elf namhafte Chirurgen, von den Kongressen der Gesellschaft für jeweils ein Jahr gewählt. Jede wissenschaftliche Arbeit kennt eine Begrenzung. Aber ob mit dieser hinreichend Aufklärung über die Integration der Chirurgen als Berufsgruppe (zu denen organisatorisch auch Urologen, Orthopäden und Gynäkologen gerechnet wurden) in das NS-System gelingen kann, ist eher zu verneinen.
Von den elf Präsidenten waren sechs Mitglieder der NSDAP: Konrad Röpke, Georg Magnus, Rudolf Stich, Nicolai Guleke, Hans von Haberer Kremshohenstein und Arthur Läwen. Stützen der Nazipartei waren als Fördernde Mitglieder der SS die Präsidenten Martin Kirschner, bereits vorher Mitglied des »Stahlhelm«, Erich Lexer, Obersturmbannführer, 1937 von Hitler mit der Goethemedaille ausgezeichnet, Rudolf Stich, vorher Stahlhelm und SA, Nicolai Guleke, vorher Kyffhäuserbund und SA, sowie von Haberer. Die Unterwerfung unter die Nazidiktatur vollzog sich unverzüglich. Röpke feierte auf der Jahrestagung der Gesellschaft 1933 euphorisch Hitlers Geburtstag und gelobte »treueste Mitarbeit am Wohle des deutschen Volkes.« Er vollzog auch sogleich die erste »Säuberung« der Chirurgischen Gesellschaft von jüdischen Kollegen, lud sie von der Tagung aus, da »deren Auftreten hier angesichts der heutigen nationalen Strömung Unruhe und Mißstimmung hervorrufen könnte«.
Das Unterwerfungsritual wiederholte sich bei jeder Eröffnungsrede der Präsidenten. Selbst Otto Nordmann, der erklärter Nazigegner war und dafür persönliche und berufliche Nachteile in Kauf nahm, entschloss sich, in seiner Rede im April 1939, nach der Okkupation Österreichs, »unserem allverehrten, tatkräftigen Führer« für die Schaffung des Großdeutschen Reiches »in atemberaubender Schnelligkeit« zu danken. Rudolf Stich huldigte Hitler sogar als »großem Arzt des Volkes.« Ein Präsident wurde 1935 auf persönlichen »Wunsch« Hitlers in sein Amt gewählt: Georg Magnus, für den der Krieg ein Massenexperiment für Chirurgen war und dessen Schüler Paul Rostock und Karl Brandt im Nürnberger Ärzteprozess 1946/47 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurden. Als einige weitere Beispiele der Kollaboration seien genannt: In Lexers Klinik in München wurden in den Jahren 1934 bis 1937 allein 1050 Zwangssterilisationen durchgeführt. Für die Chirurgische Universitätsklinik Jena, deren Direktor bis 1943 Guleke war, werden in dem Band 786 Sterilisationen für die Jahre 1934 bis 1941 nachgewiesen. Selbst Albert Fromme, der kein NSDAP-Mitglied war und später in der DDR die Medizinische Akademie in Dresden aufbaute, hat sich 1934 für die »Ausmerzung kranken Erbgutes« ausgesprochen.
Die Begrenzung der Aufarbeitung der Vergangenheit der Chirurgischen Gesellschaft auf ihre Präsidenten klammert, zwar formal korrekt, Ferdinand Sauerbruch, eine Ikone der deutschen Ärzteschaft, aus. Doch Sauerbruch begrüßte nicht nur die Wahl Hitlers öffentlich, sondern förderte als »Reichsgutachter« die Menschenversuche von Otmar Freiherr von Verschuer und von Josef Mengele in Auschwitz. Nicht von ungefähr verlieh ihm Brandt als »Generalkommissar des Führers für das Sanitäts- und Gesundheitswesen« in Hitlers Auftrag 1943 in Dresden das Ritterkreuz des Kriegsverdienstkreuzes mit Schwertern. Sauerbruchs Rolle im Nazireich hat das erwähnte Charité-Buch schonungslos analysiert, doch die Chirurgische Gesellschaft tut sich schwer, sich vom liebgewonnenen, verklärenden Bild zu lösen. Es fehlt auch die Selbstkritik, dass die Gesellschaft noch nicht mit dem Mythos ausgeräumt hat, der Krieg sei Schule und Bewährungsprobe der Chirurgen. Solcher Unsinn wurde z. B. 2009 in der Ausstellung »Krieg und Medizin« im Hygienemuseum Dresden behauptet.
Es ehrt die Gesellschaft, dem Band ein Verzeichnis der von den Nazis verfolgten und vertriebenen Mitglieder angefügt zu haben.
Michael Sachs/ Heinz-Peter Schmiedebach/ Rebecca Schwoch: Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933-1945. Die Präsidenten, Kaden Verlag, Heidelberg. 273 S, geb., 59,50 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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