»Da bist du ja«
»Vertraute Fremdheit«: Der Journalist Eric Breitinger schreibt über die Suche von Adoptierten nach den eigenen Wurzeln
»Da bist du ja!« Es ist einer dieser Sätze, den Eltern ausrufen, wenn das kleine Kind trotz mehrmaligem Rufen nicht geantwortet hat und schließlich im Kinderzimmer entdeckt wird, ganz versunken im Spiel, die Welt um sich herum vergessend. »Da bist du ja!«, sagt die Mutter, sagt der Vater zur pubertierenden Tochter, zum pubertierenden Sohn, wenn sie oder er am Wochenende erst weit nach Mitternacht nach Hause kommen. »Da bist du ja!« kann ein Seufzer des milden Tadels oder der halb empörte, halb erleichterte Ausruf sich sorgender Eltern sein. Eines aber sagt dieser Satz immer: »Ich hab' dich lieb!« Als Peter Wawerzinek den Satz zum ersten Mal von seiner Mutter hörte, war er bereits über 50. Seine Mutter stand da auf einem Müllplatz einer Siedlung in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg vor ihm. Sie sagte den Satz ohne Ausrufezeichen: »Da bist du ja«, ohne Herzenswärme, geradeso, als wäre nie etwas gewesen.
Doch da war »etwas gewesen«. Peter Wawerzinek, der seine Lebensgeschichte vor wenigen Jahren in dem Roman »Rabenliebe« bearbeitete, wurde 1954 als Peter Runkel in Rostock geboren. Als er zwei Jahre alt ist, flieht seine Mutter in den Westen. Ihren Sohn und ihre einjährige Tochter lässt sie allein in der Wohnung zurück. Nachbarn holen nach einigen Tagen die Polizei, die Kinder kommen ins Heim, werden schließlich adop- tiert. Erst vor wenigen Jahren machte sich der Mecklenburger auf die Suche nach seiner leiblichen Mutter - und fand sie eben an diesem Ort im Nordbadischen.
Peter Wawerzineks Geschichte ist eine von 16 in dem Buch »Vertraute Fremdheit - Adoptierte erzählen« des Journalisten Eric Breitinger. Der in der Schweiz lebende Autor wurde selbst als Kleinkind adoptiert, hat seine ersten Lebensjahre in einem Heim verbracht und seinen leiblichen Vater erst mit Anfang 20 kennengelernt. In dem im Berliner Christoph-Links-Verlag erschienenen Buch werden nicht nur die Lebensgeschichten von Adoptierten erzählt, Breitinger ordnet die Geschichten ein in eine Gesamtaussage, die beschreibt, was es heißt, adoptiert worden zu sein. Breitinger klagt nicht an, nicht die, die ihre Kinder weggeben, nicht die, die Kinder adoptieren, nicht die, die sich in den Heimen, Pflegefamilien oder an anderen Orten um die Kinder kümmern. Eric Breitinger will eines klarstellen: Dass alle Liebe und Fürsorge der »Ersatzeltern« nicht das Trauma heilen können, entwurzelt worden zu sein. Und dass man darüber reden muss, statt zu schweigen. Den Betroffenen will er Mut machen, »traumatische Erlebnisse in Worte zu fassen«, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. »Nur offen gezeigte Wunden können heilen«, zitiert Breitinger den Künstler Joseph Beuys.
Für die Schweizer Psychotherapeutin Barbara Steck haben alle Adoptierten, die sie in ihrer therapeutischen Arbeit kennengelernt hat, eine Gemeinsamkeit: »Sie haben ein beeinträchtigtes Selbstwertgefühl.« Eric Breitinger drückt es so aus: Adoptierte, sagt er, sind eigentlich immer auf der Suche nach dem eigenen Ich. Woher komme ich? Wer bin ich? Wer werde ich sein? Während die leiblichen Kinder in den Eltern, Geschwistern, Tanten, Onkeln Ähnlichkeiten im Aussehen oder im Verhalten erkennen, die ihnen seelische Stabilität verleihen, bleibt der Adoptierte immer ein Fremder, der vergeblich nach dem Ähnlichen sucht, das ihm emotionalen Halt geben kann. »Als ich meine Mutter da auf dem Müllplatz sah, war mein erster Gedanke: Das bin ich, nur viele Jahre älter, mit etwas vollerem Haar und als Frau«, erzählt Peter Wawerzinek.
Ähnliches berichtet die Berlinerin Claudia Engelmann. Als sie ihren leiblichen Vater vor einigen Jahren traf, war das wie ein Blick in einen Spiegel. Das ist beruhigend und verstörend zugleich. Man sieht sich selbst in einem anderen, der einem aber vollkommen fremd ist. »Meine Eltern«, sagt die Sozialpädagogin, sind die beiden Personen, die mich kurz nach meiner Geburt adoptiert haben.« Zur leiblichen Mutter und zum leiblichen Vater hat Claudia Engelmann wie viele der in dem Buch Porträtierten keinen Kontakt mehr. Das Verhältnis zu den biologischen Eltern sei ein für allemal ein gestörtes, sagt Eric Breitinger. Der Kontakt zur Herkunftsfamilie besteht - wenn überhaupt - meist über die Geschwister, denn die sind, so Breitinger, »unschuldig, oft Mitbetroffene«. In seiner kühnsten Vision stehen Peter Wawerzinek und seine acht Geschwister am Grab der Mutter, halten sich an den Händen und bringen die Mutter unter die Erde. Der Schriftsteller weiß, dass es dazu nicht kommen wird, sagt er, aber die Vorstellung eines derart post-ödipalen Ritus lässt ihn offenbar nicht los.
Zwischen 1950 und 2007 wurden in beiden deutschen Staaten rund 540 000 Kinder adoptiert. In den letzten Jahren gehen die Adop- tionszahlen zurück, und das obwohl die Bestimmungen für eine Adoption gelockert wurden; so wurde zum Beispiel das Höchstalter für interessierte Paare angehoben. Viel hat sich in den letzten Jahren geändert. Über Adoptionen wird offener gesprochen, Kinder werden nicht mehr über ihre Herkunft im Unklaren gelassen, es gibt Gesprächskreise für Eltern wie für die Adoptierten. Als Eric Breitinger in Berlin auf Einladung des Verlages sein Buch öffentlich vorstellte, stand am Ende der Lesung eine Frau auf und erklärte sich: Auch sie habe zwei kleine Kinder adoptiert und ihren Kindern gegenüber daraus kein Geheimnis gemacht. Später werde sie ihren Kindern - wenn denn gewünscht - den Kontakt zu den biologischen Eltern ermöglichen. Claudia Engelmann hatte da weniger Glück. Sie erfuhr erst mit acht Jahren, dass sie adop- tiert wurde, während ihre Mitschüler das schon längst wussten. Und den Kontakt zu den leiblichen Eltern konnte sie erst herstellen, als sie volljährig war.
Was all die Schicksale in diesem Buch eint, ist die Herkunft. Adoptivkinder kommen nie aus sogenannten geordneten Verhältnissen. Das ist nicht verwunderlich: Wer sein Kind weggibt, weggeben muss, ist in Not - entweder in finanzieller oder in seelischer, meist trifft beides zu. Junge Mädchen, ohne Ausbildung, ohne berufliche Perspektive, ohne Partner, mit einem überforderten, bindungsarmen sozialen Umfeld. Claudia Engelmann etwa zählt mittlerweile acht Geschwister, Kinder, die ihre leibliche Mutter zur Welt gebracht hat. Nur die wenigsten davon haben einen gemeinsamen Vater. Als sie der Frau, von der sie zur Welt gebracht wurde, zum ersten Mal gegenübersteht, ist sie geschockt. An der Wohnungstür wird sie von einer verlebten Frau empfangen, im Morgenrock, mit verwischter Schminke im Gesicht. »Geh, und mach deiner Schwester einen Kaffee«, herrscht diese Person einen vielleicht achtjährigen Jungen an, der - so stellt sich später heraus - Claudias jüngster Halbbruder ist.
Verwunderlich ist aber auch nicht, dass die Adoptionsfamilien in der Regel vom anderen Ende der sozialen Leiter stammen. Nur wer in geordneten Verhältnissen lebt, für ein Kind emotional und finanziell sorgen kann, darf ein Kind adoptieren. Man kann dieses Missverhältnis mit brutal-einfachen Worten so ausdrücken: Adoption ist eine Transaktion des Kindes aus dem Hartz-IV-Milieu ins gut situierte Bürgertum. So sehr also die Betroffenen die »Wunde Adoption« (Eric Breitinger) schmerzt, so sehr wissen die meisten auch, »das die Adoption das Beste war, was mir passieren konnte« (Claudia Engelmann).
Eric Breitinger: Vertraute Fremdheit - Adoptierte erzählen. Chistoph-Links-Verlag, Oktober 2011, 208 Seiten, 14,90 Euro.
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