- Kultur
- Berlinale 2012
Tanz der Verhältnisse
Eisensteins »Oktober« als Berlinale-Gala
»Oktober« (Oktjabr), der dritte Film Eisensteins, das ist Fest und Feier der geglückten Revolution von 1917. Sehr frei auf John Reeds Buch »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« beruhend - unter diesem Titel wurde der Film auch außerhalb der Sowjetunion vertrieben -, ist der Film keine historisch akkurate Rekonstruktion der Ereignisse, sondern ist eher den öffentlichen Massentheateraufführungen verpflichtet, in denen Teile des Geschehens nachgestellt wurden.
Populäre Mythenbildung für eine neue Gesellschaft. Dass der Film den historischen Fakten nicht genau folgte, wurde schon 1928 erkannt. Sogar von Verfälschung und Lüge war die Rede. So stand die Zarenstatue, die zu Beginn des Films zerstört wird, in Moskau und nicht in St. Petersburg, und sie wurde auch erst 1921 abgerissen. Die Chronologie der Ereignisse wurde leicht verändert. Die Erstürmung des Winterpalastes war weit weniger dramatisch als im Film. Die Kritik übersah, dass der Film eine intellektuell und emotional fordernde Verarbeitung der Revolutionsgeschichte sein will, die selbstständiges Denken und Handeln erzeugen soll.
Nach dem internationalen Erfolg von »Panzerkreuzer Potjemkin« standen Eisenstein und seinem Team vergleichsweise beträchtliche Mittel zur Verfügung. So konnte der Regisseur ausführlich sein Konzept der intellektuellen Montage erproben. Die Plausibilität von Raum und Zeit des traditionellen Spielfilms wird darin weitgehend aufgegeben.
Ungewöhnliche Kameraeinstellungen, Detailaufnahmen und expressive Lichtsetzungen werden so kombiniert und montiert, dass kein harmonischer Gesamtausdruck entsteht, sondern die Disparatheit bestehen bleibt. Dazu kommt der Verzicht auf identifikatorische Hauptfiguren und die Betonung der Massen als Motor der Ereignisse.
Über weite Strecken wirkt der Film wie eine Illustrierung des Marxschen Diktums, dass die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden müssten. Immer wieder kontrastiert Eisenstein einzelne Menschen und Mengen mit Monumenten, Herrschaftsgebäuden. Das Leben bricht sich Bahn. Wohl auch deshalb die emphatische Inszenierung der Erstürmung vom Winterpalast. Dass in den Film auf Weisung Stalins eingegriffen wurde, ist bekannt. So wurden fast alle Szenen mit Trotzki, der in Ungnade gefallen war, entfernt.
Eisenstein ist in seiner Vorstellung der Politik als Maschine eher Leninist als Marxist. Die politischen Gegner der Revolutionäre wirken zumeist wie Karikaturen. Auch dadurch, dass der Einfluss des russischen Symbolismus zu spüren ist, macht »Oktober« gelegentlich einen barockisierenden Eindruck. Trotzdem kann man den Film nicht auf Propaganda reduzieren.
Dass jede Wirklichkeit intellektuelle Konzepte relativiert, gehört zum Leben, das Eisenstein eindrücklich feiert.
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