Wem gehört die Welt?

Über Aufbrüche und Umbrüche

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 4 Min.

Aufbrüche und Umbrüche - wie ein roter Faden zieht sich das Thema durch alle Sektionen des Festivals. Aufbrüche und Umbrüche - das ist in diesem Berlinale-Jahrgang das Fazit über das Filmschaffen der gegenwärtigen Welt. Das gesellschaftskritische Kino hat hier seinen Platz - mehr denn je haben Filmemacher ihr Kameraobjektiv auf die Probleme unserer Zeit scharfgestellt.

Der Wettbewerb - was hat er zu bieten in Berlin, das andere Festivals nicht hätten? Der Wettbewerb ist das Aushängeschild. Ausschließliche Fokussierung auf diesen (starbesetzten!) Teil der Festspiele würde jedoch alle anderen Aspekte in die nicht gerechtfertigte Unschärfe ziehen. Ein Festival, so es seinen Namen im besten Sinne trägt, besteht auch aus all dem, was um die Wettbewerbspräsentation herum ermöglicht wird. Und die Berlinale hat davon seit Amtsantritt von Direktor Dieter Kosslick Erstaunliches zu bieten - Jahr für Jahr mehr. Damit ist sie ein Solitär.

Mit einer Geschichte von den ersten Stunden eines Umsturzes eröffnen heute diese 62. Internationalen Filmfestspiele: »Leb wohl, meine Königin« des Franzosen Benoît Jacquot blickt auf Versailles im Juli 1789 - das Herzklopfen der Revolution ist trommellaut geworden, das Volk begehrt auf. Es fällt nicht schwer, darin eine Parallele zu aktuellen Entwicklungen auf der Welt zu sehen. Der Eröffnungsfilm ist so quasi wie ein Motto ins Programm gesetzt. Es werden die Ereignisse aus der Sicht der Diener von Versailles erzählt. Wie überhaupt der Blick der Betroffenen in den rund 400 Filmen aller Sektionen auffallend häufig die Hauptperspektive bildet.

Im chinesischen Wettbewerbsbeitrag »Bai lu yuan« (Regie: Wang Quan'an, vor fünf Jahren mit »Tuyas Hochzeit« Gewinner des Goldenen Bären) ist der Schauplatz ein kleines Dorf. Der Film spielt in einer Zeit, da das chinesische Kaiserreich kurz vor seinem Ende steht - auch hier sind also wieder gesellschaftliche Verhältnisse im Umbruch. Oder gespiegelt in Shakespeares »Julius Cäsar«, im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Rebbibia in Rom inszeniert: Die italienischen Regisseure Paolo und Vittorio Taviani begleiten die Proben und eröffnen Assoziationen zwischen dem Drama und der heutigen Welt.

Ob es um das Leid von Kindersoldaten im kongolesischen Bürgerkrieg geht (»Rebelle« von Kim Nguyen, Kanada), oder um die Wartezeit einer Ärztin 1980 in der DDR, die über die Ostsee in den Westen flüchten will (»Barbara«, einer der drei deutschen Wettbewerbsbeiträge, Regie: Christian Petzold, mit Nina Hoss), oder ob der versuchte Neuanfang einer deutschen Familie in Norwegen erzählt wird, in »Gnade« (Regie: Matthias Glasner, mit Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel) - Umbrüche und Aufbrüche, auch im Privaten.

Das Dranbleiben an aktuellen Prozessen, die gezielte Auswahl solcher Filme und die Unterstützung politisch engagierter Filmemacher hat die Berlinale zum politischsten der großen Weltfilmfestivals erhoben. Auch bei den Filmen, die außer Konkurrenz laufen oder als Special gezeigt werden, hat dies Credo Gewicht. Es geht etwa um den 11. September 2001 (»Extrem laut und unglaublich nah« von Stephen Daldry), um den Kampf gegen die Todesstrafe, speziell in den USA (»Death Row«, Dokumentarfilm von Werner Herzog), um den Bürgerkrieg in Jugoslawien (»In The Land Of Blood And Honey«, das Regiedebüt von Hollywood-Star Angelina Jolie).

Einen passenden Nachtrag zum Hintergrund der China-Reise Angela Merkels liefert der Dokumentarfilm »Ai Weiwei: Never Sorry«, in dem die US-Amerikanerin Alyson Klayman, die den chinesischen Künstler drei Jahre begleitete, ein Porträt des Menschenrechtlers wie des politischen, ökonomischen, sozialen Zustands in China zeichnet. Nach seiner Vorführung wird zu öffentlicher Diskussion geladen.

Die Festivalsektionen Panorama und Forum sind zwei Programmreihen, die einst, als der Wettbewerb nur brave Konvention zeigte, die radikalen, mutigen, ästhetisch und inhaltlich besonderen Filme in die Waagschale warfen: das Kantige, das Sperrige, das Lebenswichtige gegen das Runde, Schläfrige, Unterhaltungsselige. Dass in diesem Jahr mehrere Filme über den Arabischen Frühling Platz in den Festivalreihen bekamen, versteht sich von selbst.

Drei Filme aus Japan beschäftigen sich mit dem Tsunami und der Katastrophe in Fukushima. Welch Umbruch in den Lebensverhältnissen der Japaner, welch Signal an die Technokraten der Welt. So porträtiert Funahashi Atsushi in »Nuclear Nation« einen Bürgermeister ohne Stadt, der verzweifelt seine auf Notunterkünfte in Tokioter Vororten verteilte Gemeinde zusammenzuhalten versucht.

Des 50. Jubiläums des Oberhausener Manifestes der Autorenfilmer wird auch gedacht - mit einem Porträt des verstorbenen Ulrich Schamoni, einer Hommage seiner Tochter Ulrike Schamoni. Erinnerung auch an den verstorbenen Regisseur Theo Angelopoulos und den Schauspieler Vadim Glowna.

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