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Was für eine revolutionäre Berlinale!

  • Charlotte Noblet
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit dem Goldenen Bären wurde „Cesare deve morire“ von Paolo und Vittorio Taviani ausgezeichnet. Die Berlinale begann dieses Jahr mit einer Kostümrevolution mit dem Film „Königlich kulinarisch!“ von Benoît Jacquot über das Verhalten der Königin Marie-Antoinette und des Hofs im Schloss Versailles bei den Unruhen im Juli 1789. Jedoch hatte die 62. Berlinale eher zeitgenössischen Revolten einen besonderen Platz bei der Programmation reserviert: Viele Produktionen waren dem arabischen Frühling, den Empörten oder der Euro-Krise gewidmet.
Was für eine revolutionäre Berlinale!

"Können wir eine Demokratie haben, wenn wir uns nicht einmal gegenseitig mit unseren unterschiedlichen Meinungen zuhören können?" Kurz nach dem Rücktritt Mubaraks befragt die 22-jährige Journalistin Heba Afify den Protestierenden auf dem Tahrir Platz: Sie will ihre Meinungsvielfalt für die Online-Redaktion der unabhängigen ägyptischen Tageszeitung "Al-Masry Al-Youm" in Worte verfassen. Die Dokumentarfilmemacherin Mai Iskander begleitete sie bis zu den Parlamentwahlen im November 2011. Twitter und Facebook gehören zum Alltag der jungen Journalistin. Einige Videos, die Heba Afify mit ihrem Smartphone aufgenommen hat, sind im Dokumentarfilm zu sehen. Damit gewinnt „Words of Witness" an Authentizität.

"Share": Die social media und das Image des arabischen Frühlings

„Soziale Netzwerke und die Filmaufnahmen dieser großen Protestbewegungen und die Gewalt, der sie ausgesetzt waren und sind, haben maßgeblich zur Wahrnehmung der Umbrüche in der arabischen Region beigetragen" war in einer Pressemitteilung der Berlinale zu lesen. „Die Bilder vom Tahrir Platz in Kairo sind bereits Teil des visuellen Gedächtnisses."

Die Amateur-Videos im Internet sind allerdings bei den Filmeschaffenden umstritten. Die einen beschweren sich, dass sie die Autoren zu Helden machen, dass die Informationsquellen dabei oft verschwinden. Die Anderen lobben die Möglichkeit, die Aktualität sehr schnell dokumentieren zu können.

„Mit YouTube ist eine neue Generation von Filmemachern entstanden, die die Bilder aus ihren Handys als Waffen im Freiheitskampf einsetzen", sagte die syrische Regisseurin Hala Al Alabdallah bei einer Podiumsdiskussion über Syrien. „Das sind radikale Autorenfilme, die unter Lebensgefahr entstehen."

"Do it yourself": der Wunsch, seine Revolution selber zu dokumentieren

Unabhängige Medien sind ebenfalls sehr präsent in dem Dokumentarfilm von ägyptischen Regisseur Bassam Mortada. Sechs junge Journalisten erzählen, warum sie es während der Revolution im Ägypten nicht geschaffen haben, der Gewalt und Ungerechtigkeiten gegenüber neutral zu bleiben. „Althawra... Khabar" (Reportage... eine Revolution) zeigt den Kampf um die Würde des ägyptischen Volkes. Wie bei vielen Produktionen um den "arabische Frühling" wird hier der Wille gezeigt, das Bild seines Landes mitzugestalten.

"Ich weiß nicht, in welche Richtung sich die arabische Welt verändert. Der Wandel geschieht nicht über Nacht, sondern ist ein langer Prozess", erklärte Hania Mroué, libanesische Produzentin und Festivaldirektorin. „Klar ist aber: Was der Arabische Frühling bewirkt, ist ein neues Bedürfnis, zu dokumentieren, was vor sich geht. Aus der Sicht der Betroffenen, nicht der Medien. Es waren vor allem junge Leute, die die Revolutionen gestartet haben. Und sie wollen ihre Geschichte aus ihrem persönlichen Blickwinkel erzählen." Hania Mroué saß in der Berlinale-Jury für den besten Erstlingsfilm.

"Crise": Den Sozialbewegungen einem Echo geben

"Ich wollte unbedingt einen Film über das Buch von Stéphane Hessel drehen", sagte der französische Regisseur Tony Gatlif der Presse nach der Vorführung seines Films "Indignados". "Die Dreharbeiten hatten schon im Januar 2011 begonnen, also vor den "Occupy"- und "Indignados"-Bewegungen. Es war sozusagen mein Glück, dass junge Leute mit den Worten von "Empört Euch" im Frühling auf die Straßen gegangen sind."

Das Engagement des Regisseurs gibt das Team weiter: "Tony hat sich mit einem Kinofilm der Realität zur Verfügung gestellt, weil die klassischen Medien nicht mehr im Dienst der Realität sind", sagt die spanische Protagonistin Isabel Vendrell Cortès. "Es ist sehr schade, besonders wenn so viele Menschen die Realität nur durch ihr Bildschirm beobachten!"

Ein weiterer Aufruf zur Reaktion trotzt alle Formen von Inszenierung: Der Filmemacher Romuald Karmakar stellt einen 102 Minuten langen Dokumentarfilm vor, welcher zehn Reden von deutschen Intellektuellen über die Eurokrise nacheinander zeigt. Die Performance „Angriff auf die Demokratie. Eine Intervention" ähnelt einer alten frontalen Vorlesung, dafür zieht ihr interessanter Inhalt durch die Kinosaale: Die EU-Bürger sollten über die Eurokrise nachdenken und die Ich-verstehe-den Finanzmarkt-ohnehin-nicht-Haltung schnell aufgeben, sonst wird Innen die Demokratie weggenommen!

Die 62. Berlinale spiegelt also die Revolten unserer heutigen Welt. Auf die Situation der Saharauis im Westsahara wird ebe4nfalls verwiesen, unter anderen Dank dem bemerkenswerten Dokumentarfilm „Hijos de las nubes, La última colonia" (Söhne der Wolken, die letzte Kolonie) von Javier Bardem.

Selbst die letzte Tage des Filmfestivals wurden von der zeitgeistlichen Atmosphäre „Ende einer Epoche" gefärbt: Ein weiterer Präsident kündigte seinen Rücktritt: Christian Wulff. Das auch, war großes Kino!

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