Erschreckende Weite

In Vikersund beginnt die Skiflug-WM, bei Flügen auf fast 250 Meter fliegt die Angst mit

Das Spektakel kann beginnen: Nach der Qualifikation gestern Abend segeln von heute an die besten Skispringer der Welt von der Flugschanze in Vikersund, es geht um Weltmeistertitel. Die Belastungen, denen die Athleten ausgesetzt sind, sind enorm, die Sturzgefahr ebenfalls. Dennoch hofft mancher, dass erstmals 250 Meter übersprungen werden.

Ganz flüchtig betrachtet könnte man meinen, der Unterschied zwischen Springen und Fliegen ist bis auf die 100 Meter Weitenunterschied nicht so gravierend: Ein Springer setzt sich mit den klobigen Sprunglatten an den Füßen auf den Bakken, er blickt nach unten, und wenn der Trainer das Zeichen gibt, lässt er sich gleiten in die Spur, aus der es kein Zurück gibt. Er drückt sich mit aller Kraft vom Schanzentisch ab und segelt schließlich gen Tal.

Doch das Fliegen ist nicht nur eine vollkommen andere Disziplin, weil der Skiflieger statt vier Sekunden plötzlich bis zu neun Sekunden die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft setzt, weil die Geschwindigkeit am Flugschanzentisch mehr als 105 km/h beträgt statt um die 90 auf einer gewöhnlichen Großschanze, weil er bei 220 und mehr Metern landet statt bei 130. Es ist etwas anderes, weil selbst die besten Springer Angst vorm Fliegen haben. Von etlichen Skisprunghelden sind Legenden überliefert, wie sie die Flugschanze statt über den Tisch über die Treppe verlassen haben, so auch von unerschrockenen Typen wie Jens Weißflog und Matti Nykänen.

Die Dimensionen sind einfach andere: Als der 19-jährige hochtalentierte Peter Prevc vergangenes Wochenende auf der Heini-Klopfer-Schanze von Oberstdorf auf 225,5 Meter segelte, konnte er die auf ihn wirkenden Kräfte nicht mehr beherrschen: Er stürzte. Zu diesem Zeitpunkt beträgt die Geschwindigkeit des Fliegers etwa 130 km/h. Es ist, als springe man aus einem fahrenden Zug. Prevc verließ den Auslauf, es schien alles glimpflich verlaufen, Minuten später jedoch verlor er das Bewusstsein. Im Krankenhaus wurden mehrere Bänderrisse diagnostiziert. Die Saison ist für ihn beendet.

Ein Problem des Fliegens ist, dass die riesigen Schanzenanlagen nur für Wettkämpfe präpariert werden, weswegen die Springer das Fliegen nur bei den wenigen Probe- und Wertungsdurchgängen trainieren können. Viele Springer quält vor dem Fliegen verstärkter Harndrang, die sogenannte Angstdiurese, laut einer Studie überfordert die »Flut optischer Reize« beim Flug das menschliche Nervensystem. Der 19-jährige Jens Weißflog stürzte 1983 schwer in Harrachov, in den Folgejahren soll ihn auf Großschanzen regelmäßig Panik befallen haben. Dieter Thoma, 1990 Flugweltmeister in Vikersund, beschreib die Schrecken einmal so: »Bei der Landung denkst du, es treibt dir die Kniescheibe aus der Hose, und nachher schwitzt du und zitterst am ganzen Körper. Es ist gigantisch.«

Fünf Schanzen gibt es weltweit, auf denen derzeit geflogen werden kann: Den Kulm in Bad Mitterndorf (Österreich) sowie die Bakken von Planica (Slowenien), Harrachov (Tschechien), Oberstdorf im Allgäu und eben Vikersund, wo heute die ersten zwei von vier Durchgängen ausgetragen werden sollen. Für 10,2 Millionen Euro haben die Norweger die Schanze umgebaut, mittlerweile ist sie der einstigen Weltrekordschanze von Planica weit überlegen. Der Norweger Johan Remen Evensen flog hier im Vorjahr auf 246,5 m. Diese Weite gilt als Weltrekord, obwohl der Weltverband FIS schon seit Jahren keine offizielle Wertung mehr führt.

Evensen, erklärte am Montag überraschend seinen Rücktritt - vier Tage vor der Heim-WM. Sein Körper habe genug gehabt, sagte der 26-Jährige zur Erklärung. Ob Angst eine Rolle spielte? Zumindest hat Evensen voriges Jahr keine gehabt, meint jedenfalls Bundestrainer Werner Schuster: »Evensen wäre 2011 auch auf die Sturzlinie geflogen.« Er zweifle, ob die 250 Meter bei dieser WM wirklich übersprungen werden, sagt Schuster: »So entschlossen muss erst wieder einer sein.«


Der WM-Modus

Seit 1972 gibt es Weltmeisterschaften im Skifliegen. Anders als beim Skispringen wird der Titelträger in vier Wertungsdurchgängen ermittelt. Diese werden an zwei Tagen ausgetragen. Auch die Zusammensetzung des Starterfeldes unterscheidet sich. Neben den besten Zehn der Gesamtwertung im Skiflug-Weltcup, die für den Wettbewerb gesetzt sind, qualifizieren sich 30 weitere Springer. Das Teilnehmerfeld umfasst somit nur 40 Athleten - zehn weniger als beim Skispringen. Es wird nach dem ersten Durchgang auf 30 Springer reduziert. Erst 2004 wurde der Teamwettbewerb eingeführt. Der Modus in der Mannschaftskonkurrenz ist der gleiche wie beim Skispringen. Jeder der vier Springer pro Team geht zweimal über den Bakken. Gewertet werden alle Sprünge.

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