Kapitulation vorm Labelzwang

»She She Pop - Schubladen« gastiert im Hebbel am Ufer

  • Katja Kollmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Fragenstakkato von West nach Ost
Fragenstakkato von West nach Ost

»Kati Witt!« schreit Nina Tecklenburg, geboren 1977 in Hannover, und schiebt sich mit ihrem Bürostuhl zur Bühnenrampe. Gemeinsam mit Wenke Seemann, geboren 1978 in Rostock, schwärmt sie von deren Kür bei der Olympiade 1988. Als Tschaikowskis »Schwanensee« ertönt, sind beide nicht zu bändigen: Ekstatisch wiederholen sie die Choreographie von Eiskunstläuferin Katarina Witt. Der Bürostuhl ersetzt die Kufen. Rollend rasen Nina Tecklenburg und Wenke Seemann über die Bühne, drehen sich mit ausgestrecktem Körper im Kreis und wedeln graziös mit den Händen. Eine Erinnerung. Zwei Mal Kindheit. Kindheit geprägt vom Feindbild des jeweils anderen.

Mehr gemeinsame Erinnerung gibt es nicht an diesem Abend der »Schubladen«. Drei in der BRD sozialisierte Frauen treffen auf drei Geschlechtsgenossinnen mit DDR-Hintergrund. Drei große Schreibtische stehen auf der Bühne des HAU 2, an jedem sitzen eine Wessi und eine Ossi. Bis auf das kurze in völliger Harmonie dargebotene »Schwanensee«-Intermezzo arbeiten sich die Performerinnen von She She Pop und ihre ostdeutschen Gäste zwei Stunden lang gnadenlos durch einen schier unendlichen Fragenkatalog, der immer neue Nahrung erhält durch die Erinnerungsstücke, die sich die Frauen aus den Schubladen am Bühnenrand holen. Die Kernfragen - Was macht eine Ost-Biografie aus? Gibt es einen Grundkonsens in jeder Westbiografie? Warum sind Wessis und Ossis so unterschiedlich? Warum fällt es beiden Spezies so schwer aufeinander zuzugehen? - werden im Jahr 22 der deutschen Einheit an scheinbar nebensächlichen Details durchdekliniert. Es beginnt mit »Flasche oder Muttermilch?« und endet mit einem Fragenstakkato. Per Handzeichen geben die Frauen Antworten auf diverse Fragen wie »Bist du links? Liberal? Neoliberal? Kapitalist?« - bis Ilia Papatheodorou vor dem Wahnsinn, sich ständig einordnen zu müssen kapituliert. Fatalistisch hebt sie jedes Mal die Hand und führt so diese Fragestellung, die nach einer Schwarz-Weiß-Lösung verlangt, ad absurdum.

Dazwischen werden sechs Leben mit Hilfe von Büchern, Liedern, Briefen und Tagebuchnotizen rekonstruiert. Von der Geburt bis in die Gegenwart. In dieser humorvollen Innenschau der west- und ostdeutschen Befindlichkeiten wird verständlich, dass »Wessi sein« und »Ossi sein« auch im Jahr 22 nach der Deutschen Einheit eine Rolle spielt. Wie die Jahresringe beim Baum hinterlassen die Lebensjahre im Menschen wichtige, unauslöschbare Spuren - dies wird an diesem Abend sinnlich erfahrbar. Die ostdeutschen Lebensgeschichten sind rauer als die ihrer Westkolleginnen. Der große Bruch in ihrer Biografie wird flankiert von unzähligen kleinen. Und trotzdem fragt eine Wessi am Ende des Abends ihr Gegenüber vorwurfsvoll: »Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als die Mauer fiel?« und löst damit einen Sturm von ähnlichen Fragen aus. Alle schreien durcheinander und haben dabei nur sich selbst im Fokus. Ein kurzes, stimmiges Psychogramm der deutschen Nachwendegesellschaft.

Bis 11.3. im HAU 2, 20 Uhr, Infos unter: www.hebbel-am-ufer.de

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