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Ein schmaler Grat

ARMUT - EIN DEUTSCHLANDREPORT

  • Jörg Staude
  • Lesedauer: 3 Min.

Was Armut hier und heute ist, wissen wir. Ihr widmet sich auch eine wachsende Sachliteratur. Armut ist meist weiblich und wird künftig zunehmend ein älteres Gesicht haben.

Wer arm ist und mit Hilfe eines rudimentären Sozialstaats irgendwie existieren will, rennt Tag für Tag von einem Amt zum anderen, stellt einen Antrag nach dem anderen. Wer ohne entwürdigende Staatshilfe auskommen will, muss jede Arbeit annehmen und von früh bis spät malochen. Wer beides nicht will und/oder nicht kann, wird vollends an den Rand der Gesellschaft und in die Endstation Bahnhofsmission gedrängt - für Reflexion, gar Veränderung bleibt da nicht viel Zeit und Kraft. »Die meisten in unserer Gesellschaft sind arme Schweine«, bilanziert ein Zahnarzt in seinem Text schonungs- wie illusionslos.

Die Zustände sind bekannt. Wie aber passiert es, dass man in die Armut abstürzt? Diesem Thema widmet sich das »Armut hier und heute« in erster Linie. Viele, die per Interview oder Erfahrungsbericht zu Wort kommen, gehören oder gehörten der abstiegsbedrohten unteren Mittelschicht an und haben sich auf sozialem Mindestniveau eingerichtet - in relativer Armut.

»Das Bild der Armut hat sich gewandelt. Der neoliberale Konsens gibt ihnen die Insignien des Versagens«, schreibt der multitalentierte Hans-Eckart Wenzel in dem Buch, in dem auch Friedrich Schorlemmer und Götz Werner vertreten sind. Mit seiner Kritik am Neoliberalismus hat Wenzel zweifellos recht. Im Spannungsfeld von relativer Armut, von Zwang, Freiwilligkeit und Anderssein hat sich inzwischen aber auch eine ganze »care economy« etabliert. Diese bietet ein großes Spektrum individueller Möglichkeiten zur Armutsbewältigung, die Werte wie Solidarität befördert. So ist es ist möglich arm, aber menschlich reich zu sein. Armut kann sogar - mit entsprechendem philosophischen Unterbau - als Voraussetzung fürs Menschlichsein erklärt, aber auch verklärt werden.

Diesen Ideenkreis leuchtet der Band weithin aus. Ganz ohne Klischees geht es dabei nicht ab. So stammen erfolgreiche Bewältigungsstrategien oft von jungen Frauen oder Müttern, nicht selten mit einem kreativ-künstlerischen Hintergrund. Diesen gegenüber stehen jene, die sich, die Bierflasche in der Hand vorm Kiosk, ihrer Situation ergeben.

Der Grat zwischen der bewussten Entscheidung zum Verzicht und dem Schönreden des aus Armut erzwungenen Verzichts ist ziemlich schmal. Am stärksten empfinden die Befragten ihre Armut als störend, wenn sie sich zwischenmenschliche Beziehungen nicht mehr leisten können: nicht nur die Einladung ins Café oder Restaurant, sondern auch das gute Buch, die Konzertkarte oder das Zeitungsabonnement. Läuft relative materielle Armut dann auf soziale Kommunikations- und Kontaktarmut hinaus, wird sie zur wirklichen Katastrophe.

Im Buch organisiert sich die »care economy« in sozial-kulturellen Projekten und Vereinen, die hier auch seitenweise aufgelistet werden. Viel Hoffnung verknüpft sich nicht mehr mit dem neoliberal geprägten Staat. Die ABM, die in vielen erfragten Biografien als sinnvoller Teil des Arbeitslebens gesehen werden, kommen als gedankliche Alternative heute nicht mehr vor. Ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor, der Kern einer »care economy« sein könnte, hat inzwischen leider auch den Klang einer Utopie.

Adelheid Wedel: Armut hier und heute. Ein Deutschlandreport. Militzke Verlag. 208 S., br., 19,99 €.

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