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Die Mülltaucher

Die Suche nach brauchbaren Nahrungsmitteln im Abfall der Supermärkte ist Überlebensstrategie und politisches Statement

  • Robert Meyer
  • Lesedauer: 6 Min.
Mülltaucher durchsuchen die Container von Supermärkten nach Nahrungsmitteln, die der Einzelhandel für unverkäuflich hält. Das Durchstöbern der Container ist längst zu einer Bewegung geworden, die nicht nur von alternativen Ökoaktivisten aus einer konsumkritischen Haltung heraus praktiziert wird.
Die Mülltaucher

Es ist kalt in dieser Nacht. Die Temperatur fällt unter den Gefrierpunkt, ein leichter Schneefall setzt ein. »Fast ideale Bedingungen zum Containern«, erklärt Christian, während er im Schutz der Dunkelheit mit einer kleinen Gruppe Menschen durch die dünne Schneeschicht auf den Straßen von Chemnitz stapft. Perfekt ist die Kälte, weil die Lebensmittel in den Müllbehältern der Supermärkte und Discounter bei diesen Temperaturen nicht so schnell verfaulen und damit länger haltbar bleiben.

Genau darauf haben es die vier Studenten abgesehen. Christian will seine neuen Mitstreiter auf eine ungewöhnliche Einkaufstourtour durch die Stadt mitnehmen. Beim Containern oder auch Mülltauchen geht es darum, aus dem Abfall weggeworfene Lebensmittel zu sammeln, die aus Sicht des Einzelhandels nicht mehr für den Verkauf geeignet sind. Zum Verzehr sind sie aber nach den Erfahrungen vieler Mülltaucher durchaus noch geeignet. Dabei ist Müll in diesem Zusammenhang ein absurder Begriff, wie Christian in dieser Nacht beweisen wird.

Schenkt man den Aussagen des Einzelhandels Glauben, dann dürfte das Phänomen der Mülltaucher eigentlich nicht existieren. Fast alle bekannten deutschen Einzelhandelsketten geben die gleich lautende Antwort, wenn man sie auf das Thema anspricht. Durch ausgereifte Kalkulationsmodelle würden die einzelnen Filialen nur mit der Menge an Waren beliefert, welche tatsächlich beim Kunden im Einkaufswagen landet, heißt es unisono in den Stellungnahmen. Was in den Regalen liegen bleibt, werde wenige Tage vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums entweder im Preis reduziert oder an eine der deutschlandweit über 800 Tafeln abgegeben, wo die Lebensmittel dann an bedürftige Personen verteilt werden.

Eine fast perfekt durchgeplante Welt also, könnte man meinen. Christian allerdings schüttelt den Kopf, denn er weiß es aus Erfahrung besser. Ausgestattet mit Taschenlampe und Arbeitshandschuhen, nähert sich die Gruppe ihrem ersten Ziel in dieser Nacht. Weit kommen sie bei diesem Supermarkt allerdings nicht, denn der Müllercontainer ist durch ein Schloss gesichert.

Juristisch betrachtet gehört der Behälterinhalt in Deutschland bis zu seiner Entsorgung durch ein Abfallunternehmen noch dem Supermarkt, weshalb Mülltaucher auf ihren meist nächtlichen Touren Diebstahl begehen. In anderen Ländern ist die Rechtslage für Sammler wesentlich günstiger. In Österreich und der Schweiz gilt Müll etwa als »herrenlose Sache« und darf somit jederzeit mitgenommen werden - vorausgesetzt man begeht dabei keine anderen Straftaten und bricht nicht etwa einen verschlossenen Container auf.

Allerdings führt Mülltauchen auch hierzulande nicht zwangsläufig zu einem juristischen Nachspiel. Laut Aussagen der Sammlerbewegung in Internetforen bleibt es häufig bei Verwarnungen, wenn man erwischt wird. Kommt es in einigen Fällen dann doch zu einer Anzeige, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren dasVerfahren nicht selten wegen mangelnden öffentlichen Interesses an einer Strafverfolgung ein.

Ein Restrisiko bleibt allerdings immer, weshalb es Christian vermeidet, allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen und daher erst nach Ladenschluss loszieht. Bereits die zweite Anlaufstation, die Filiale eines bekannten Marken-Discounters, ist ein Volltreffer. Aus den Abfallbehältern fischt die Gruppe neben verschiedenen Sorten Obst und Gemüse auch zwei gut erhaltene Blumensträuße. Letztere wären im regulären Verkauf für 4,99 Euro über die Ladentheke gegangen, wie dem Preisetikett zu entnehmen ist.

Dass der Inhalt des ersten offenen Containers in dieser Nacht vor allem pflanzlicher Natur ist, wundert Christian nicht. Obst und Gemüse, das beispielsweise leichte Druckstellen aufweist, lassen die meisten Kunden liegen, woraufhin die Händler es dann aus den Regalen aussortieren. »Seit ich Containern gehe, ernähre ich mich gesünder«, scherzt Christian. Dabei sind es längst nicht nur die beinahe täglich frisch an den Handel gelieferten Lebensmittel, die er auf seinen zwei bis drei Touren im Monat findet. Einmal hat er eine Großpackung Mozzarella erbeutet, ein andermal abgepackte Fertigsuppe, mit nach Hause genommen.

Finanziell nötig hätte der Student seine nächtlichen Streifzüge nicht. Ihm geht es vor allem darum, politischem Protest gegen die Konsum- und Wegwerfgesellschaft zum Ausdruck zu bringen. »Ich halte es für die nachhaltigste Art der Ernährung. Sie ist sogar noch ökologischer, als ständig Bioprodukte zu kaufen, weil man schließlich Nahrungsmittel isst, die bereits im Müll gelandet sind und somit verloren gewesen wären.«

Die Statistik macht deutlich, was Christian ausdrücken will. Nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO landen weltweit jedes Jahr rund 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel im Abfall, was einem Drittel der weltweiten Nahrungsmittelproduktion entspricht. Allerdings geht nur ein vergleichsweise geringer Anteil davon auf das Konto der Müllentsorgung der Supermärkte vor Ort. Ein Großteil schafft es gar nicht erst in die Regale des Handels, sondern wird aufgrund der ständig steigenden Qualitätsansprüche von Konzernen und Verbrauchern bereits vorher aussortiert.

Welche absurden Folgen solch eine solche Konsumpolitik haben kann, illustriert die Dokumentation »Taste the Waste« (»Kostet den Abfall«) des deutschen Filmemachers Valentin Thurn. In einer Szene berichtet ein Bauer, dass er einen Teil seiner Kartoffelernte einfach auf dem Feld liegen lässt, weil Größe und Form der Knollen nicht den Ansprüchen seiner Großkunden entsprechen. Für den globalisierten Nahrungsmittelmarkt gelten die gleichen Regeln wie auf den Laufstegen der Modewelt: Allein die Optik entscheidet, ob die Ware eine Chance bekommt.

Obwohl Christian aus Überzeugung zum Mülltaucher wurde, hat er sein Verhalten des öfteren kritisch hinterfragen müssen. Innerhalb der Bewegung gibt es regelmäßig Diskussionen darüber, ob man das Containern nicht lieber denjenigen überlassen sollte, die es tatsächlich aus finanziellen Gründen dringend nötig haben. Immerhin, so weiß Christian aus Erfahrung, ist Mülltauchen längst keine Beschäftigung mehr, der ausschließlich alternative linke Ökoaktivisten oder Obdachlose nachgehen. »Mülltaucher finden sich mittlerweile in allen Gesellschaftsschichten«, behauptet Christian.

Das große Überangebot an Weggeworfenem ist es, das den Studenten bewegt, weiterhin auf seine Sammeltouren geht. Oft braucht er nur wenige Märkte anzusteuern, um seinen Rucksack bis an den Rand mit Lebensmitteln zu füllen. Bei seiner heutigen Tour durch Chemnitz fällt die Ausbeute zwar ordentlich, aber für Christians Geschmack nicht besonders üppig aus. Seine drei Begleiter dagegen staunen, was sie alles aus den Tonnen fischen. Mit jedem Geschäft füllen sich die mitgebrachten Beutel immer weiter, bis die Gruppe schließlich genug für diese Nacht gesammelt hat.

Ob sie noch einmal im Abfall der Zivilisation auf Schatzsuche gehen würden? »Mal schauen«, sagt Ulrike, ebenfalls Studentin, während sie die gesammelten Waren begutachtet. Einige Tage später meldet sie sich wieder. Sie hat sich trotz der nächtlichen Kälte erneut auf die Suche begeben einen echten Volltreffer gelandet. »Habe mehrere Kilo einwandfreies gefrostetes Fischfilet und Garnelen erbeutet«, teilt sie ihren Mitstreitern mit. Christian wundert sich darüber kaum noch. Was andere als Müll entsorgen, ist für ihn eine nahezu vollwertige Nahrungsmittelquelle.

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