Umstrittener Warnschuss
Sachsen-Anhalts LINKE: Sitzenbleiben abschaffen
Tausende Versetzungsvermerke hat Edwina Koch-Kupfer in ihrem Berufsleben als Lehrerin in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen geschrieben. Und sich darüber geärgert, dass mit dem »Nicht Versetzt« Misserfolge produziert werden und Menschen der Lebensweg verbaut wird. Nun sitzt sie als bildungspolitische Sprecherin in der LINKE-Fraktion des Magdeburger Landtags. In dieser Woche tritt sie vor das Landesparlament, um einen Antrag einzubringen, der den Titel »Sitzenbleiben in den Schulen überwinden« trägt.
Das Gottschalk-Beispiel
In vielen Fällen werde die Wiederholung einer Klassenstufe nicht der differenzierten Leistungsentwicklung der Schüler gerecht, sagt die LINKE-Politikerin, und die Klassenwiederholung stelle sich als keine wirksame Form der Förderung heraus. »Natürlich werden immer wieder große Namen von Thomas Gottschalk bis Thomas Mann genannt, die es trotz Extrarunde im Leben geschafft haben. Das verzerrt die Wahrnehmung, denn die meisten Biografien sind durchs Sitzenbleiben eher negativ geprägt.«
Koch-Kupfer sieht im Nicht-Versetzen durchaus auch einen Schritt der Pädagogen, sich Problemschülern zu entledigen, statt sie individuell zu fördern. Wissenschaftliche Untersuchungen belegten, dass »ganz allgemein zwar im Wiederholerjahr eine Leistungsverbesserung zu beobachten« sei, »aber schon im nächsten Schuljahr, in dem neue und höhere Anforderungen gestellt werden, sinken die Leistungen wieder ab«. Insbesondere sollten Schulen mehr als bisher angeregt werden, selbst durch eine demokratische Entscheidung pädagogische Konzepte einzuführen, die geeignet sind, den Schulerfolg ohne Klassenwiederholungen zu sichern. Dass im Schuljahr 2009/2010 im Land Sachsen-Anhalt 3918 Schüler sitzen geblieben sind oder die Klasse freiwillig wiederholten, habe zusätzliche Kosten verursacht, ohne dass die einen messbaren Nutzen brachte. Mit 2,2 Prozent Wiederholern liege die Quote doppelt so hoch wie in Brandenburg. »Und die Aufsteiger in der PISA-Studie - Sachsen und Thüringen - liegen bei 1,3 beziehungsweise 1,4 Prozent«, sagt Koch-Kupfer.
Das Thema Verzicht aufs Sitzenbleiben zieht sich seit Jahren durch die bildungspolitische Debatte des Landes Sachsen-Anhalt. Die CDU/SPD-Regierungskoalition brachte es in die Diskussion um die Gemeinschaftsschulen ein. Unterdessen köchele es auf kleinerer Flamme dahin, so Koch-Kupfer. Die Koalition habe durchaus erkannt, dass ein Zusammenhang zwischen Sitzenbleiben und späterem Verlassen der Schule ohne Abschluss bestehe. Ob jedoch geplante Sommerfördercamps für Sitzenbleiber die Lösung seien, bezweifelt Edwina Koch-Kupfer.
Die Bildungspolitikerin verwahrt sich aber dagegen, dass nun die LINKE mit ihrem aktuellen Vorstoß für Teile der Koalition von CDU und SPD in die Bresche springe. »Die Einzigen, für die ich hier in die Bresche springe, sind die Schüler«, sagt die 49-Jährige. Sie hält es für eine Mär, dass leistungsschwache Schüler andere beim Lernen behindern.
500 Millionen Euro Kosten
Doch Koch-Kupfer, die in Niedersachsen Lehrerreferendare ausbildete, sieht Defizite bei den pädagogischen Konzepten und bei der Befähigung ihrer Berufskollegen im Umgang mit den entsprechenden Schülern. Auch sei das Sitzenbleiben lassen ein ziemlich teurer Warnschuss. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung beziffert die Kosten dieses zumeist sinnlosen Versuchs, Kinder zum Durchstarten zu bewegen, deutschlandweit auf rund 500 Millionen Euro jährlich. »Die wären in einer gezielten Förderung Versetzungsgefährdeter deutlich besser angelegt«, meint Edwina Koch-Kupfer.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.