Die Nivellierung des Denkens
»Kapitalismus Forever« - Wolfgang Pohrt, Protagonist der BRD-Altlinken, legt eine Kehrtwende hin
Die Philosophische Fakultät III der Berliner Humboldt-Universität sieht zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil. neben der eigenständigen Abfassung einer Dissertation eine mündliche Prüfung vor, deren Hauptgegenstand ein Thema sein muss, das nichts mit den Thesen der Doktorarbeit zu tun hat. 2005 lag von mir zu diesem Zweck besagter Fakultät eine Arbeit zum Umgang mit der NS-Vergangenheit im deutschen Nachkriegsfilm vor. Ich konnte als Kandidat der Prüfungskommission Vorschläge für den mündlichen Teil machen. Einer meiner Vorschläge lautete, die 2003 auf deutsch erschienene Interpretation des Werkes von Karl Marx durch den US-amerikanischen Soziologen Moishe Postone in ihren Hauptzügen zu referieren und zu bewerten. Der mich betreuende Professor, der gleichzeitig der Vorsitzende der Prüfungskommission war, lehnte dieses Ansinnen vor der Einreichung der Vorschläge mit der Begründung ab, heutzutage hätte jeder seinen eigenen Marx. Seine Bemerkung war freundlich gemeint.
Sie verweist auf ein generelles Problem der bürgerlichen Gesellschaftsauffassung, deren Wurzeln tief im liberalen Denken mit dem angeblich unbezweifelbaren Hohelied auf subjektive Wahrnehmung, individualisierte Erkenntnis, Systemglauben und Differenzierungsgeist verankert sind. Wenn jeder seinen eigenen Marx hätte, dann wäre eine kontextuelle Einordnung seines Schaffens und ihr perspektivischer Sprengstoff für das Kapital natürlich nicht objektivierbar. Und zur Analyse der realen, hartnäckig brutalen Außenwelt, über die Karl Marx immer noch und die in dieser Tradition stehenden aktuellen Theorieentwürfe erneut etwas zu sagen haben, wäre ein solcher »Jedermann-Marx« erst recht nicht tauglich.
Inzwischen hat auch ein wichtiger Protagonist der BRD-Altlinken seinen eigenen Marx gefunden: Wolfgang Pohrt. Laut seiner neuesten Wortmeldung in Buchform mit dem Titel »Kapitalismus Forever« ist nämlich Marx Schuld daran, dass der Kapitalismus ewig leben wird. Pohrts Begründung ist die bei ihm selbst gespürte anthropologische Kehrtwende, wonach der Kapitalismus als System fürderhin allen etwas anzubieten hat, sodann sich durch seine Flexibilität aus sämtlichen Krisen immer wieder heraus manövriert und schlussendlich »die Menschen« in ihrer großen Masse den Kapitalismus offenbar wollen, denn sonst hätten sie diese Gesellschaftsform schon längst überwunden.
Einmal abgesehen davon, dass der Theorie von Marx jedwede moralische oder anthropologische Stoßrichtung absolut fremd ist, weil sie historisch argumentiert, und durchaus auch abgesehen davon, dass der Kern des Marxismus ja gerade darin besteht, den Widerspruch zwischen den Verheißungen der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Taten kenntlich zu machen und überwinden zu wollen, ist es im geringsten Fall einfach profan, den Individuen und der Gesellschaft vorzuwerfen, sie seien nicht da, wo sie sein könnten und wo der Buchautor schon ist bzw. war. Im schlimmeren Fall, nämlich dem, dass auch Pohrt erkenntnistheoretisch schon einmal weiter war, ist seiner Publikation zu entnehmen, dass »Das Kapital« das »bewundernswerte Dokument eines großartigen Scheiterns« sei, dass darüber hinaus Marx schon zu Lebzeiten die Idee des Kommunismus als Antizipation der menschlichen Gesellschaft abhanden gekommen wäre und dass er schließlich alles über die Wirkungsweise des Kapitalismus entschlüsselt hätte, wodurch paradoxerweise die (Pohrt'sche, aber Marx zugeschriebene) Resultante, dass das Kapital nicht zu besiegen sei, bereits 1883 hätte festgestanden haben soll.
Auf dieser Ebene spielt sich das ganze Buch ab, wobei nur schwer zu entziffern ist, ob nun die Verabsolutierung der Evolution oder eine Art warenförmige Neurotheologie die Spätbürger nach Pohrts Zuschnitt ergriffen hätte. Und es ist nicht triftig zu entscheiden, ob er als Karl Kautsky des Varieté oder als AWD-Mitarbeiter der Traumdeutung enden möchte.
Nun ist es in Restaurationszeiten schon oft vorgekommen, dass produktive Köpfe von einst in resignierenden Jammer verfallen. Entweder waren sie schon immer geneigt, mit den herrschenden Verhältnissen ihren Frieden zu machen, oder aber der eigene Wille erlahmt mit zunehmender Lebenserfahrung aus Gründen, die, nun ja, jeder unleugbar seine eigenen nennen muss. Der Verdacht, dass nichts schlimmer ist als der Furor, wenn Bürgerkinder mit marxistischen Phrasen um sich werfen und eigentlich nur im Sinn haben, an Legislative und Exekutive teilzunehmen, hat sich schlagend bei nahezu allen Protagonisten des phänotypischen Gesellschaftswandels von 1968 ff. erwiesen.
Das Gemeine daran ist: Wolfgang Pohrt gehörte bislang nicht dazu. In seinem nicht eben schmalbrüstig anmutenden Werkskatalog tauchen mindestens drei Abhandlungen auf, die für emanzipatorische Perspektiven von höchstem Interesse sind und dies auch bleiben werden.
Erstens: Die »Theorie des Gebrauchswerts« von 1976, ein hellsichtiger Deklinationskommentar zu den Konsequenzen aus den »Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie« von Marx der Jahre 1857-58, dem sogenannten »Rohentwurf«. Darin findet sich zum Beispiel der Satz in Stein gemeißelt, dass der Arbeiter, sofern er für seine lebendige Arbeit nur Sachen eintauscht, betrogen wird. Gesellschaftstheoretisch formuliert: Das Proletariat in seiner industriellen und später seiner immateriellen Form ist integrierter Bestandteil des Kapitalverhältnisses und keineswegs der Antipode zum Kapital. Zu exakt dem gleichen Ergebnis kam dann auch die anfangs erwähnte Marx-Exegese von Postone.
Wenn dies als richtig anzunehmen ist, dann kann das nur bedeuten, dass das Feld der sozialen Auseinandersetzung zwar die Ökonomie ist, die Intervention dagegen aber nur politisch sein kann, die dafür zu sorgen hat, dass das Proletariat (eingeschlossen all seine differenten Neufassungen Prekariat, Kleinbürgertum, Selbstausbeuter) sich als Klasse selbst aufhebt. Über die Art und Weise, wie das geschehen kann, berichten die Schriften Lenins, wohingegen Pohrt allerdings inzwischen überhaupt nicht mehr versteht, wie man so etwas je freiwillig lesen könne, dann doch lieber das Telefonbuch. Empfohlen ist also meinetwegen der Buchstabe M (in der Berliner Ausgabe 2010 immerhin 122 Seiten) statt »Was tun?«, prima.
Zweitens: Das 1984 entstandene Porträt über Honoré de Balzac als »Geheimagenten der Unzufriedenheit«. Pohrt berichtet darin über den Verfasser der »Menschlichen Komödie«, dessen Werk als das eines unbestechlichen Beobachters zeitlos wirkt, solange die bestehende Gesellschaft eine Verfallsform der bürgerlichen ist. Balzac, selbst Monarchist, ließ keinen Zweifel daran, dass die wahre Demokratie in Gestalt des Kommunismus bereits die Paläste unterwühlt, während darin noch gefeiert wird. Seine Literatur seziert die Ursprungsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, als sie in Fetischdingen wie denen des Geldes noch so herzlich offen war und bei den politischen Kräften, dazu passend, höchst ehrlich die jeweiligen Parteinamen mit ihren politischen Strategien und Maßnahmen identisch waren.
Drittens: 1997, »Brothers in Crime«, eine Herkunftserzählung von Gruppen, Cliquen, Banden, Rackets und Gangs als denjenigen, die genau dann die Herrschaft übernehmen, wenn der Legislative nichts mehr einfällt und die Exekutive sich nur noch um sich sorgt. Es handelt sich bei dieser Schrift um die geniale Variante einer negativen Staatstheorie, die empirisch unterfüttert, was Peter Hacks als Programm zur Zukunftsverleugnung von Gemeinwesen diagnostiziert hat: »Aber was der Staat nicht regelt, regeln andere.« Der mafiöse Teil der Gesellschaft instruiert den Rest dadurch, dass auch das Faustrecht eine Form von Recht darstellt. Das heißt: Um die Akkumulation des Kapitals in Gang zu halten oder neu zu entfachen, sind Mord, Raub, Diebstahl, Erpressung und Betrug durchaus nützliche Funktionen, die, allein durch ihre Anwesenheit, ihre lasche Verfolgung bei schwacher Staatlichkeit oder ihre Domestizierung des gewesenen Staates durch Clan- und Stammesinstitutionen, darauf hindeuten, dass der Kapitalismus ständig von der politischen Bereitschaft seiner Staatshaushaltsorganisatoren abhängig ist.
Das alles war einmal Wolfgang Pohrt. Heute erscheint er, seiner Schlussformulierung aus »Kapitalismus Forever« folgend, nur noch als das, was bürgerlicher Maßstab in Reinkultur ist: unfähig, darüber nachzudenken, wie die menschliche Gesellschaft abseits der Verwertungslogik mit möglichst wenig Schaden an Leib und Leben ihrer Mitglieder einzurichten ist. Er schreibt: »Im Kapitalismus gibt es nur einen Gewinner, nämlich das Kapital. Der Verlierer sind immer die Menschen, und zwar alle, egal ob im Ghetto oder der Gated Community. Offensichtlich mögen sie das. Dagegen kann man nichts machen.«
Vor den preußischen Kaminen der wiedererstarkten Erwerbs- und Besitzaristokratie, die gegenwärtig ihren Vertretern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts verdächtig ähnlich sieht, nicht im Äußeren, aber im Inneren, liest sich das wie eine Offenbarung für den Klassenkampf von oben. Faktisch handelt es sich um die Nivellierung des Denkens nach Kriterien von Machbarkeit und Unwürde.
Obwohl es heutzutage möglich ist, auch über Telefonbücher zu promovieren, beschäftigte sich mein damaliger Vortrag zur Erreichung des Doktortitels mit einer zeitgemäßen Lenin-Interpretation. Ende der Darbietung.
»Marxismus ist Schlafmittel, Beruhigunspille und Beschäftigungstherapie. Wir beobachten ihn immer dann, wenn die Leute lieber noch mal ein ganz dickes Buch lesen und danach gleich noch eins. Alles, bloß kein Krawall. Niemand wird enteignet. Die nächsten fünfzig Jahre ändert sich nichts, jedenfalls nichts von Bedeutung. Das ist die frohe Botschaft, die wir eintüten dürfen.«
»Bei den Ossis war Marx nämlich Pflichtlektüre gewesen, und man sieht doch, was dabei herausgekommen ist, nämlich die Ossis. Wenn jemand heute noch, in Kenntnis dieses Sachverhalts, in Kenntnis der Ossis, von der ›Kapital‹-Lektüre als Breitensport sich eine geistige Ertüchtigung der Landsleute erhofft, dann leidet er unter Realitätsverlust.«
»Wir dürfen uns für den Mindestlohn und die Anhebung von Hartz-IV begeistern. Viele Menschen brauchen das Geld. Aber für 100 Euro mehr im Monat militante, strapaziöse und riskante Massendemonstrationen im Regierungsviertel veranstalten? Es lohnt sich einfach nicht.«
»Auf dieser Welt kann man nichts Gutes tun, ohne dass es zum Gedeihen des Kapitalismus beiträgt. Und wenn man etwas Schlechtes tut, nützt es ihm auch. Das ist kein Bonmot, sondern Lebenserfahrung.«
Wolfgang Pohrt in »Kapitalismus Forerver«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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