Aber heidschi bumbeidschi bum bum

Opfer von Missbrauch in westdeutschen Kinderheimen kämpfen noch immer um angemessene Entschädigung

  • Burga Kalinowski
  • Lesedauer: 9 Min.
Der katholische Orden Don Bosco geht auf den italienischen Priester Johannes Bosco zurück. Er ist weltweit aktiv und betreibt in Deutschland, vor allem im Westen, zahlreiche Kinder- und Jugendeinrichtungen.
Der katholische Orden Don Bosco geht auf den italienischen Priester Johannes Bosco zurück. Er ist weltweit aktiv und betreibt in Deutschland, vor allem im Westen, zahlreiche Kinder- und Jugendeinrichtungen.

Wirklich schön hier. Wasser, Wald, Vogelzwitschern. Ein Riesengelände. 85 000 Quadratmeter mit Blick auf den Wannsee, tief im Westen Berlins. Rainer Redup zeigt mir ein Stück seiner Vergangenheit: ein parkartiges Anwesen, Schätzwert 40 bis 50 Millionen Euro. Es gehörte den Salesianer-Brüdern Don Bosco. Weltweit der drittgrößte katholische Männerorden mit Tätigkeitsfeldern wie Jugendseelsorge, Jugendsozialarbeit, Heimerziehung.

»Hier war das Heim.« 100 Plätze für als Problemfälle geltende Kinder wie Rainer Redup. Er geht auf die Toreinfahrt zu. Der Weg zum Heim - kein Heimweg. »Da oben war das geschlossene Haus. Nee, da kam man nicht raus. Ich war ja drin. Da gab es alles. Fixen, Dealen, Arschfingern - anale Untersuchung angeblich wegen Drogenverdachts. Was denken Sie denn? Entweder du warst der Liebling vom Pfarrer oder das letzte Stück Dreck.«

Er zeigt auf Stadtvillen. Früher standen hier Werkstätten; da war ein Sportplatz und dort die Kirche. »Morgens um sechs raus zum Beten. Runter auf die Knie. Sonntags zweimal und 'ne Andacht. Und wehe, wenn nicht. Das gab ein Nachspiel. Da war nix christlich.« Aber kulturvoll. Er hätte auch Trompete lernen können.

Mit knapp 14 Jahren kommt Rainer Redup zu den Don-Bosco-Brüdern. Da hat er schon vier Jahre Heim hinter sich. Verlorene Kindheit. Kaum eine Zukunft. Er wächst in Neukölln auf, in der Gegend am Richardplatz. Leben mit Schlägen, auf Pump und in Armut. »Die goldenen Zeiten des Wirtschaftswunders gab es bei uns nicht.«

Sklaven eines Wirtschaftswunders

1969 kommt er mit Untergewicht in das Kinderheim Schloss Britz. Die erste Station. Er ist zehn Jahre alt. Es könnte nun besser für ihn werden. Wird es aber nicht. Und schön schon gar nicht. Es bleiben wütende Erinnerungen wie an die 18-jährige Praktikantin, die ihn an den Haaren zwölf Meter über den Flur schleifte, um ihm klarzumachen, dass »lange Haare hier verboten sind«. Wie an den Erzieher, der »ein alter Nazi war. Der hat stolz davon erzählt. Bei den Panzern war er gewesen. Der stellte einen nachts im Winter nackig raus - wegen der Abhärtung.« Außerdem gab es Prügel - »reichlich«.

Was hatten Sie denn für eine Kindheit, fragt mich Redup - eine schöne? Ja. »Na, ich nicht. Das ganze Leben nur die Arschkarte.«

Rainer Redup gehört zu den über 800 000 Mädchen und Jungen, die von 1949 bis Mitte der 70er Jahre in staatlichen und kirchlichen Kinder- und Erziehungsheimen in der Bundesrepublik untergebracht waren. 65 Prozent der etwa 3000 Heime mit mehr als 200 000 Plätzen wurden von der Kirche betrieben. Mindestens die Hälfte der Kinder war zwei bis vier Jahre in solchen Heimen, wenn nicht gar ihre ganze Kindheit und Jugend.

Von all den Betroffenen leben noch etwa 500 000 Frauen und Männer. Überlebende einer sozialen Katastrophe. Zeitzeugen für politisches Unrecht, gesellschaftliches Versagen und moralische Schande. Heimkinder: gedemütigt, gequält, geschlagen. Sexuell missbraucht, isoliert, als Zwangsarbeiter ausgebeutet. Würde, Wohl und eigener Wille dieser Kinder wurden permanent verletzt. Die Hölle auch im Namen des Herrn.

Was Menschen auch passiert - die Bilder der Kindheit bleiben erhalten. Vielleicht verblassen sie, vielleicht werden die Konturen schärfer. Auf jeden Fall sind es wichtige Markierungen auf der Landkarte des Lebens: Von dort komm ich her, das war ich. Kindheit ist der Anfang von allem: wie man fühlt, was geachtet wird und was geliebt. Angst und Freude, Enttäuschung und Glück. Vertrauen und Selbstvertrauen. Das ist für jeden anders - und immer einzigartig. Für die Heimkinder sind die Bilder ihrer Kindheit ein Horrortrip. Erinnerungen: wuchernde Schlingpflanzen mit giftigen Blüten.

Tabu und Stigmatisierung bis heute. Schwer für alle der Weg ins Leben. Manche haben ihn verpasst. Manchen war er zu anstrengend. Andere haben ihn gefunden. Immer hat es Kraft gekostet. Jahrzehntelang haben sie darüber geschwiegen, aus Scham. 2004 gründeten sie den Verein ehemaliger Heimkinder. Halfen sich beim Erinnern. Begannen zu reden.

Über Orte.

Verbrechen.

Täter.

Die Orte: Mädchen-Heim mit Großwäscherei, betrieben von den Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vincenz in Dortmund. Heim Zum guten Hirten in Münster. Diakonie Freistatt der Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Sankt Hedwig in Lippstadt. Salvator-Kolleg in Klausheide. Der Kalmenhof, mitbeteiligt an den Euthanasie-Morden der NS-Tötungsanstalt Hadamar. Margaretenheim in Leonberg. Jugendhof Berlin. Fürsorgeheim Glückstadt, in dem Insassen teilweise als Strafe KZ-Kleidung tragen mussten. Hier fand im Mai 1969 ein Aufstand gegen unmenschliche Verhältnisse statt. Das ist übrigens nur eine kleine Auswahl der Tatorte.

Die Verbrechen: Nie wird Siegfried S. das vergessen. Ende der 60er Jahre kommt er nach Dorlar ins evangelische Martinswerk. Schon nach zwei Wochen würde er lieber sterben, als hier zu leben. Eine Erzieherin schadet ihm für alle Zeit. Prügel wegen kleinster Vorkommnisse. Folter im Vorratskeller. Er sieht auf eine hellgraue Metalltür. Stockschläge auf den nackten Hintern. Vergewaltigung mit einem Besenstiel. Regelmäßig. Alle zwei Wochen samstags vor der TV-Serie Raumschiff Enterprise. Anschließend müssen er und andere Kinder dieser Erzieherin Füße und Rücken massieren.

Er schreit nicht. Er weint nicht. Er sagt nichts. Manchmal dudelt das Radio eine der beliebten sentimentalen Melodien: Heidi oder Mamatschi oder Aber Heidschi bumbeidschi. Zuckerguss für die Wirklichkeit. Vielleicht summten die Schwestern sogar mit.

Oder: Psychoterror. Von 1965 bis 1970 erlebt Marion Z. im Diakonissenheim vom Zionsberg den permanenten Versuch, sie zu brechen. Das Mädchen wird mit körperlicher Gewalt und Valium ruhig gestellt, zum Baden zwischen Blutegeln im Flüsschen Diemel gezwungen und zu tagelangem Dunkelarrest verurteilt. Sie träumt von Selbstmord.

Menschenrechtsverletzungen in Serie. Unvorstellbare körperliche und psychische Grausamkeiten, heißt es in einer späteren Studie über die Zustände in Heimen. Von 1967 gibt es die Beschreibung so genannter Besinnungszellen in Nordrhein-Westfalen: circa 3 Meter lang, 1,50 breit und 2,50 hoch. Keine Belüftung, ein an die Wand geschlossenes Klappbett, ein Wandtisch und ein Wandsitz, kaum Licht.

Noch ein Oder: Zwangsarbeit. Ob Torf stechen, ob als Dienstmädchen an private Haushalte ausgeliehen, ob Schwerstarbeit in der katholischen Großwäscherei, ob Minderjährige in Don-Bosco-Heimen, die in zehnstündigen Schichten pro Tag 4000 Kugelschreiber herstellen müssen für fünf Zigaretten oder zwei Flaschen Cola - Profit pur, fast immer ohne Lohn und Rentenpunkte für die Kinder und Jugendlichen.

»Der allergrößte Teil des innerbetrieblichen Wirtschaftens in diesen Heimen ist durch Kinderarbeit abgedeckt worden«, sagt der Erziehungswissenschaftler Manfred Kappeler. »Wenn man das mal auf 30 Jahre bezieht und die Hunderttausende betrachtet, die in den Heimen gewesen sind, müssen die Beträge in die Milliarden gehen.« Auch so entsteht ein Wirtschaftswunder.

Im Neandertal der Spießer

Die Täter profitieren und kassieren. Sie haben Gesichter und Namen. Trotzdem sind sie nicht einfach zu finden. Sie tauchen unter in der Bruderschaft und in institutionellen Strukturen, verstecken sich hinter dem Kreuz, tarnen sich mit öffentlich ins rechte Licht gesetzter Nächstenliebe und reden sich raus mit verwaltungsrechtlichen Vorschriften. Kleinbürgerliche Moral und konservative Gewohnheiten fanden Schutz im Bürgerlichen Gesetzbuch. So wird die Prügelstrafe in Westdeutschland erst 1973 per Gesetz abgeschafft, in Bayern sogar erst 1980, das Züchtigungsrecht der Eltern im Jahr 2000.

Ein krudes Familienbild. Sogenannte uneheliche Kinder und ihre Mütter - im bigotten Wertesystem ganz unten und rechtlich benachteiligt - sind Bastarde und Schlampen, unrein und wertlos. So werden sie beschimpft. So werden sie auch behandelt. Oft sind Jugendämter und Amtsrichter dabei fürsorgliche Handlanger. Im Neandertal der westdeutschen Spießer krähte kein Hahn danach, wenn Heimkinder grün und blau geschlagen, wenn ihnen Bildung und Kultur vorenthalten wurden, wenn der überwiegende Teil von ihnen keine qualifizierte berufliche Ausbildung erhielt. Wo kein Kläger, da kein Richter - die Täter waren fein raus. Die Kinder saßen in der Falle.

»Ich kenne viele, die da drin geblieben sind, auch als sie dann draußen waren«, sagt Dirk Friedrich, stellvertretender Vorsitzender des Vereins Ehemalige Heimkinder. Wir reden über den aktuellen Stand der Dinge. Der ist unerfreulich. Denn seit der Bundestag den Empfehlungen des Runden Tisches Heimerziehung folgte und im Juli 2011 die Einrichtung und Finanzierung des Fonds »Heimerziehung« beschloss, seit dem kann man getrost von einem Skandal sprechen.

Es geht um Geld. Die ehemaligen Heimkinder haben eine pauschale Entschädigung vorgeschlagen: Monatsrente von 300 Euro oder wahlweise eine Einmalzahlung von 54 000 Euro. Bekommen haben sie die seit dem 1. Januar 2012 praktizierte Fondslösung von 120 Millionen Euro, die auf Sachhilfe, Rentenausgleich und Therapie orientiert. Das klingt zunächst gut, geht aber an der Lebenswirklichkeit vieler Betroffener vorbei. Deshalb hat die Leiterin der im Januar eröffneten Berliner Beratungsstelle ihren Job dieser Tage schon wieder gekündigt. Sie halte es für unverantwortlich, Hoffnungen zu wecken »und sie dann nicht zu erfüllen«, sagte die Sozialpädagogin. Zu den untauglichen »Hilfe«-Mitteln gehört unter anderem, dass der Antragsteller seinen Verzicht auf weitere Forderungen an den Fonds erklären und unterschreiben muss. Damit verzichtet er gleichzeitig auf jeden anderen Anspruch im Sozial- und Rentensystem. Unwiderruflich.

Krank an Leib und Seele

Eine ausgebuffte juristische Finte. Ein böser Schacher. Eigentlich Nötigung. Der Verein Ehemaliger Heimkinder warnt davor und lehnt den Fonds ab. Knapp 400 Opfer streiten um eine höhere Entschädigung. »Notfalls gehen wir bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte«, sagt Dirk Friedrich. Aber das könne dauern. »Hier rufen Leute an, die sind verzweifelt und wütend. Sie leben am Existenzminimum, von Hartz IV, Grundsicherung oder einer geringen Rente, weil sie nichts mit auf den Weg bekamen. Null. Viele sind krank an Leib und Seele. Wir haben eine Scheißangst, irgendwann in einem Alters- oder Pflegeheim zu landen.« Pendeln zwischen Angst und Hoffnung - das haben alle schon mal erlebt.

Rainer Redup könnte sich aufregen. »Erst Menschenrechte mit den Füßen treten, dann paar Mille in den Pott schmeißen und sich dann auf die Kohle draufsetzen.« Das meint auch die Kirchen, die jeweils mit lediglich 20 Millionen am Fonds beteiligt sind.

Vorige Woche habe ich Rainer Redup angerufen, wegen Fotos zu diesem Artikel. Er klang nicht gut. Wie geht's, frage ich. Schlecht. Haben Sie denn mal wegen Geld für eine schöne Reise gefragt? »Nee, zum Bittsteller habe ich keine Lust. Und Zeit zu warten auch nicht.« Im Januar hat der Doktor ihm gesagt, dass er Krebs habe - und etwa ein Jahr noch. Inzwischen hat sich Rainer Redup im Hospiz angemeldet. Sein letztes Heim.

Rainer Redups Ort des Schreckens: das Tor zum einstigen Kinderheim in Berlin-Wannsee. In dem früheren Anwesen des katholischen Don-Bosco-Ordens befindet sich heute eine exklusive Wohnanlage.
Rainer Redups Ort des Schreckens: das Tor zum einstigen Kinderheim in Berlin-Wannsee. In dem früheren Anwesen des katholischen Don-Bosco-Ordens befindet sich heute eine exklusive Wohnanlage.
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