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Ein aufklärendes Feuerwerk

Die antifaschistische Dokumentation »Das deutsche Volk klagt an« und ihre unverhoffte Wiedergeburt

Was verbindet einen französischen Germanistikprofessor und ein ehemaliges RAF-Mitglied? Ein Buch, das vor einem Dreivierteljahrhundert in Paris verfasst wurde. Lionel Richard und Karl-Heinz Dellwo erzählten »nd«, wie es zum Reprint von »Das deutsche Volk klagt an« kam.
Sinnbildlich mit schwarzem Cover; die erste französische Übersetzung
Sinnbildlich mit schwarzem Cover; die erste französische Übersetzung

Auch Bücher erleben mitunter eine wundersame Auferstehung. Ein französischer Volksschullehrer erhält eines Tages von einer älteren Kollegin ein Buch, das sie in der Vorkriegszeit in Paris gekauft hatte. Als Erscheinungsjahr ist 1938 angegeben. Der Lehrer weiß, dass er nicht nur einen bibliophilen, sondern historischen Schatz in den Händen hält. Er ist Mitglied der Association des Amis de la Fondation pour la Mémoire de la Deportation (AFMD), des Freundeskreises der Stiftung zur Erinnerung an die Deportierten. Sein Vater ist im deutschen KZ Buchenwald umgekommen. Das Buch, das ihn fesselt, aufwühlt und schockiert, trägt den Titel »Le peuple allemand accuse« Kein geringerer als Romain Rolland hat das Vorwort verfasst: »Dieser Titel erinnert an die mannhafte Herausforderung, die vor Zeiten ein Mensch in das Gesicht der Gewalt warf. Es handelte sich einst um einen einzigen verurteilten Unschuldigen. Und zu diesem Aufruf empörte sich das Gewissen der ganzen Welt. Heute schweigt die Welt angesichts eines Volkes, das zu Grabe getragen wird.«

Auf die Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich und den weltberühmten Artikel »J’accuse!« gegen ein aus Antisemitismus gespeistes Unrechtsurteil bezog sich auch das Vorwort der nicht namentlich ausgewiesenen Verfasser des »Tatsachenberichts« (so der Untertitel): »Als Émile Zola sein unsterbliches ›J’accuse‹ schrieb, ging es um das Schicksal eines Einzelnen … Heute geht es um das Schicksal Hunderttausender von Unschuldigen, die in den Bagnos (frz.: Strafanstalten, K.V.) des Dritten Reiches leiden und leiden werden. Es geht um das Schicksal eines Volkes von fünfundsechzig Millionen, um die Sicherheit Europas, um den Frieden der Welt. Darum musste dieses Buch geschrieben werden.«

André Boulicault, Vorsitzender der AFMD im südfranzösische Département Gard, will den Report über »Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland« der heutigen französischen Öffentlichkeit zur Kenntnis bringen. Der Reprint erscheint 2008 in tausend Exemplaren.

Nun schlägt die Stunde von Lionel Richard. Der emeritierte Professor für vergleichende Literaturgeschichte von der Université de Picardie »Jules Verne« in Amiens stößt auf die Buchanzeige. Er weiß, dass die Erstausgabe 1936 auf Deutsch in der Edition du Carrefour erschien, die auch Publikationen des Presse-»Imperiums« von Willi Münzenberg herausgab. Und er kennt den Namen des verantwortlichen Redakteurs. Richard hat Jahrzehnte über Exilliteratur geforscht und publiziert, weilte auch mehrfach in der DDR, erstmals an der Wende 1961/62. Damals lernte er Maximilian Scheer kennen, Mitglied des Schriftstellerverbandes und des P.E.N. sowie des Deutschen Friedensrates. Und eben jenen kann er in seiner Rezension für »Le Monde diplomatique« als Autor von »Das deutsche Volk klagt an« (ein uns Heutigen freilich zu optimistisch klingender Titel) benennen.

Eigentlich hieß der 1896 geborene Rheinländer Walter Maximilian Schlieper. »Er war in der Weimarer Republik ein renommierter Theaterkritiker, hatte mit Wolfgang Langhoff gearbeitet und musste im März 1933 aus Deutschland fliehen«, erzählt Richard. »Um seine Familie nicht zu gefährden wählte er ein Pseudonym. Er nahm seinem zweiten Vornamen und eliminierte aus dem Nachnamen drei Buchstaben.« In Paris wurde Scheer Mitarbeiter der Nachrichtenagentur INPRESS, die - so Richard mit einem Leuchten in den Augen - »vom legendären Sándor Radó geleitet wurde«, einem ungarischem Geografen, Kommissar der Budapester Räterepublik von 1919, im Krieg in der Schweiz Mitglied der »Roten Kapelle«, hernach in Stalins Gulag interniert.

Nun ist es Lionel Richard, der sich um einen Reprint bemüht, gemeinsam mit Karl-Heinz Dellwo (Jg. 1952), der nach seiner Haft (wegen Beteiligung am RAF-Geiseldrama von Stockholm, 1975) den Laika-Verlag in Hamburg gegründet hat. Die Dritte im Bunde ist Scheers Tochter, Katharina Schlieper. »Es ist ein wichtiges Buch - noch heute«, befindet sie. In ihrem Vorwort für den dieser Tage erschienenen ersten deutschen Reprint zitiert sie den Vater. Das Schreiben und Redigieren war für ihn die Hölle. Die Hiobsbotschaften, von mutigen Illegalen aus dem »Reich« geschmuggelt, das immense, erdrückende Material, das in Paris auf Scheers Schreibtisch gelangte und innerhalb von sechs Wochen zu einem Buch verdichtet wurde, kann keinen Menschen unberührt lassen.

Zu der hier offerierten Schreckensbilanz der ersten drei Jahre Hitlerdiktatur gehören 225 000 Verurteilte, die aneinandergereiht, mit seitwärts ausgestreckten Armen eine Menschenkette von Aachen bis Paris, von München bis Mailand bilden würden. Ungezählt sind die erschlagenen, erschossenen, zu Tode gefolterten oder in den Selbstmord Getriebenen. Im Buch abgedruckt sind Totenlisten und Abschiedsbriefe. 112 KZ waren bereits bis 1936 im NS-Staat errichtet; der jüngste Häftling (Oranienburg) zählte 13 Lenze. Eine beigelegte Übersichtskarte zeigt die Dichte der Lager, womit allein schon das Argument der Deutschen nach 1945, man habe nichts gewusst, entkräftet ist. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr seinerzeit die hier erstmals veröffentlichte »Disziplinarordnung« in einem KZ (Esterwegen). Mehrere Seiten füllen die Namen von entlassenen Universitätsprofessoren. Vermerkt sind die Gesetze und Verordnungen, die den Terror sanktionierten und die Diktatur etablierten. Konfrontiert werden Versprechen des NSDAP-Programms an Arbeiter, Bauern und Mittelschichten mit Fakten aus dem Alltag: sinkende Löhne und steigende Preise, Großkapital und Großgrundbesitz blieben unangetastet etc. Vor allem aber werden die Militarisierung der Gesellschaft und der Kurs auf einen neuen Krieges angeprangert.

Lionel Richard, geboren 1938, kann sich an die Okkupation seiner Heimat erinnern, an Schmach, Leid, Not, Empörung. Und an die fröhlichen Augusttage 1944, als Paris befreit ist. Erst im darauffolgenden Jahr lernte er seinen Vater kennen, der 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten war und in einer Fabrik nahe Stuttgart Zwangsarbeit leisten musste.

Seine Liebe zur deutschen Literatur hat ein Exilant in ihn erweckt, erzählt Richard. Peter Rosenbaum hieß dieser. Er gehörte zu jenen deutschen Antifaschisten, die nach dem Krieg nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren wollten - entsetzt über das »Im Namen des deutschen Volkes« über die Völker Europa gebrachte Leid. Er leitete die deutschsprachige Abteilung in einer internationalen Buchhandlung in Paris, die eines Tages auch der junge Richard betrat - um sie fortan wissbegierig immer wieder aufzusuchen. Der Deutsche macht ihn mit Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht und Hermann Hesse vertraut. »Und er sagte mir: ›Wenn ich Gedichte von Becher lese, kommen mir die Tränen.‹« Die Sehnsucht brannte noch in ihm. »Ich habe zwar nicht bei Bechers Versen weinen müssen«, bemerkt der Franzose schmunzelnd, »aber ich habe das Haus des Dichters am Majakowski-Ring in Berlin-Pankow besucht.«

Doch zurück zum Buch »Das deutsche Volk klagt an« Dieses »aufklärende Feuerwerk über den Terror im Dritten Reich«, so Richard im Geleitwort zum Reprint, hat Scheer natürlich nicht allein bewerkstelligen können. In seinen Memoiren »So war es in Paris« nannte der 1978 Verstorbene als seine Helfer »Bruno« und »Nico«. Richard und Dellwo vermuten, dass es sich bei ersterem um Bruno Meisel handelte und bei »Nico« um Erich Birkenhauer, einst Sekretär von Ernst Thälmann, der nach dessen Verhaftung im März 1933 die internationale Kampagne zur Freilassung des KPD-Vorsitzenden initiierte. Später in die Sowjetunion beordert, wurde Birkenhauer (durch Intrige von Herbert Wehner) verhaftet, zu zwölf Jahren Arbeitslager und dann, im September 1941 (!), zum Tode verurteilt. Vielleicht erklärt diese Mitautorenschaft, warum dieser Report in der DDR - im Gegensatz zum »Braunbuch« über den Reichstagsbrandprozess 1933 - keine Nachauflage erlebte. Auch stützte sich Scheer in Paris auf die von Alfred Kantorowicz, dem späteren »Abtrünnigen«, gegründete Deutsche Freiheitsbibliothek. Es könnten auch weitere, in der DDR zeitweilig verfemte Westemigranten wie Albert Schreiner, Mitglied der KPD/Opposition, mitgewirkt haben.

»In dem Buch wird nicht nur über die Opfer und den Widerstand der Kommunisten gegen Hitler, sondern auch der Sozialdemokraten, bürgerlichen Demokraten, Katholiken und Protestanten berichtet«, sagt Dellwo. Ein weiterer Grund, warum es in der DDR keinen Reprint gab? Richard ergänzt: »Dokumentiert sind hier die Verfolgung der Juden wie auch das Schicksal der Homosexuellen und Zwangssterilisierten.« Letztere gehörten in beiden deutschen Staaten zu den verschwiegenen Opfern. Für Dellwo ist das Buch vor allem deshalb »so wichtig, weil es Einblick in die Systematik gibt, mit der die Nazis die gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen zerschlugen. Und ich halte es gerade wegen seiner Nichtideologisierung in der Berichterstattung für eines der wichtigsten der Zeit.«

Das deutsche Volk klagt an. Hitlers Krieg gegen die Friedenskämpfer in Deutschland. Ein Tatsachenbericht. Laika-Verlag, Hamburg. 405 S., br., 24,90 €

Der französische Germanistikprofessor Lionel Richard beim Gespräch in der »nd«-Redaktion
Der französische Germanistikprofessor Lionel Richard beim Gespräch in der »nd«-Redaktion
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