Dicke Mädchen, sympathische Loser

Das Festival »achtung berlin« zeigt im achten Jahr Filmproduktionen mit Hauptstadtbezug

  • Kira Taszman
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Film, der für sagenhafte 517,32 Euro in zehn Tagen gedreht wurde und mit einer über 90-jährigen Hauptdarstellerin aufwartet? Der Streifen hört auf den schönen Namen »Dicke Mädchen« und läuft auf dem diesjährigen »achtung berlin - new berlin film award«. So wie Berlins drittgrößtes Festival für seine achte Ausgabe immer noch an seinem sperrigen Namen festhält, so ist auch seine Agenda die gleiche geblieben: Die Filme unterschiedlichster Länge und Machart müssen einen Bezug zu Berlin und Brandenburg haben, sei es durch den Spielort, den Regisseur oder die Produktionsfirma.

So wurde »Dicke Mädchen« von Axel Ranisch größtenteils in einer Lichtenberger Privatwohnung gedreht. Der Film erzählt von Sven (Heiko Pinkowski), seiner demenzkranken Mutter Edeltraut (Ruth Bickelhaupt, die Oma des Regisseurs) und Svens bestem Freund Daniel (Peter Trabner). Als Edeltraut eines Tages ausbüxt, machen sich beide Männer auf die Suche nach ihr und entdecken ungeahnt zarte Gefühle füreinander.

»Dicke Mädchen« mag ein, mittlerweile offener, Geheimtipp des Festivals sein - darüber hinaus hat das Festival Klassisches, Abwegiges oder politisch Brisantes zu bieten.

Der von der Berliner Firma »zischlermann« produzierte Dokumentarfilm »Not in My Backyard« von Matthias Bittner spielt in Miami/Florida und begleitet zwei verurteilte Sexualstraftäter bei ihrer Bewährung »draußen«. Der Regisseur filmt den Alltag der ständig elektronisch überwachten Protagonisten oder befragt sie nach ihren Verbrechen. Dabei stellt sich beim Zuschauer Unbehagen ein. Kann man den Aussagen der Männer trauen? Doch auch die Gesellschaft erschwert ihnen den Neuanfang, bietet keine Jobs und nur temporäres Logis. Ein Film, der aufwühlt, weil er weder parteiisch noch polemisch ist.

In einem trendigen Berlin spielt dagegen Lawrence Tooleys Spielfilm »Headshots«. Eine Fotografin ist schwanger, ihr Freund verlässt sie, ein Model stirbt - mehr passiert de facto nicht. Ein Befindlichkeits-Drama, dessen unchronologische Erzählweise, extreme Zeitlupen oder rote Dunkelkammer-Bilder seine Oberflächlichkeit nur akzentuieren. Außerdem bekommt man Ansichten von riesigen Altbauwohnungen, graffiti-verzierten Hinterhöfen oder stillgelegten Fabrikgeländen serviert, die so falsch wirken wie in einem Berlin-Führer für Möchtegern-Hipster.

Zwischen Projektion, Stagnation und Hoffnung schwankt dagegen Felix Stienz' vergnügliches Roadmovie »Puppe, icke und der Dicke«. In der Geschichte um Bomber, einen kleinwüchsigen Berliner Spediteur, das blinde Pariser Mädchen Europe und den stummen Pariser Biertrinker Bruno erscheint Berlin als Paradies für Originale, Loser und (Hobby-) Künstler aus dem In- und Ausland. Eine sympathische Studie mit viel Musik über Menschen, die etwas anders sind - es wird erfrischend berlinert oder aber ein urkomisches Englisch geradebrecht.

Der Film schildert Berlin als Lebensgefühl, als Ort der Freiräume mit einer kreativen Off-Szene, wie sie heute immer weniger existiert. Diese ist auch Gegenstand von Lucian Busses spannender Doku »Berlinized - Sexy an Eis«. Letztere Wortschöpfung war der Name eines Drinks aus einer der Berliner Kellerbars der 90er Jahre, die Club-Leben und künstlerische Entfaltung gleichermaßen zelebrierten. Nach der Wende bis in die späten 90er Jahre waren Berliner Hinterhöfe in Mitte ein Ort für - heute zum Teil berühmte - DJs, Maler und Musiker, die anfangs ohne jeglichen kommerziellen Anspruch angetreten waren. Zwischendurch zeigt Busses Kamera immer wieder Bagger, die diese Freiräume buchstäblich zuschaufeln: für Glas- und Betonklötze wie am Potsdamer Platz.

Klassisches wie Frank Beyers »Karbid und Sauerampfer«, aber auch Filmhistorisches bietet die Retrospektive »Filmland Brandenburg« anlässlich des 100. Geburtstags der Filmstudios Babelsberg. Ein Jahr vor deren Errichtung, 1911, wurde im Spreewald das Liebesdrama »Der fremde Vogel« gedreht: Er sollte Asta Nielsen zum ersten Weltstar des Kinos machen.

Doch auch zahlreiche aktuelle Stoffe berühren oder verstören, wie »Festung« von Kirsi Marie Liimatainen, Absolventin der HFF Konrad Wolf. Das Martyrium der frisch verliebten jungen Johanna, die aus familiärer Loyalität, Scham und Überforderung davor zurückschreckt, ihren prügelnden Vater anzuzeigen, ist ein Höhepunkt des Spielfilmwettbewerbs. Eine augenzwinkernde Selbstreferenz gibt es darin auch. Einmal schauen zwei Teenager den Zombie-Film »Rammbock«: Er lief vor zwei Jahren bei »achtung berlin«.

18.4.-25.4. u.a. im Babylon Mitte, FaF, International, Passage; www.achtungberlin.de

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