Made in USA

Wirtschaftskrise, Billigproduktion in Asien, Neuanfang in der Nische: Die Besteckherstellung in Oneida zeigt den Wandel einer Industrienation

  • Rudolf Stumberger
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Industrieproduktion vieler Staaten wandert immer schneller ins billigere Asien ab. Wohin dieser Wandel führt, zeigt das Beispiel der Besteckherstellung im US-Städtchen Oneida.
Fabrikhalle der Sherrill Manufacturing Inc. in Oneida
Fabrikhalle der Sherrill Manufacturing Inc. in Oneida

Die Schwarz-Weiß-Fotografie im Foyer der Firma Sherrill Manufacturing Inc. zeigt ein ausgedehntes Fabrikgelände mit diversen Verwaltungsgebäuden und mehreren Produktionshallen. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Unternehmen«, sagt Gregory L. Owens und öffnet eine Metalltür. Und dann stehen wir in einer der großen Hallen, angefüllt mit kompliziert aussehenden Maschinen zur Metallbearbeitung. Allerdings sind sie nicht in Betrieb und im ganzen Gebäude ist kein Arbeiter zu sehen. Owens, ein Mittvierziger mit leicht grauen Haaren, steuert auf eine große Metallpresse zu. Neben ihr stapeln sich Pappkartons. Owens greift hinein und holt einen Gabelrohling hervor. Nachdenklich wiegt er ihn in der Hand und meint: »Das hier war einmal die größte Besteckfabrik der Welt.« 1800 Mitarbeiter waren hier zur den besten Zeiten beschäftigt. Doch das ist lange her.

Arbeitsplätze vor allem im Spielkasino

Wer heute den größten Arbeitgeber von Oneida sucht, findet ihn schnell: Das Spielkasino ist ein mächtiger Bau mit angeschlossenem Hotel. An Roulettetischen und einarmigen Banditen geht es rund. Die Kugel rollt und die Spielautomaten geben ständig Klingelgeräusche von sich. Davor die Besucher - rauchend und Alkohol trinkend, beide Verhaltensweisen mittlerweile eher ein Tabu in den Vereinigten Staaten. Um das Wohl der Kunden kümmern sich rund 600 Angestellte. Damit stellt das Spielkasino die meisten Arbeitsplätze in Oneida, einer Kleinstadt mit rund 10 000 Einwohnern. Sie liegt im Norden des US-Bundesstaates New York; Rochester (Stammsitz des Fotokonzerns Kodak) und Buffalo (Hafenstadt am Eriesee nahe den Niagara-Fällen) sind nicht weit, ebenso die kanadische Grenze. Das Kasino wird vom Indianerstamm der Oneida betrieben und ist auf ihrem Grund und Boden erbaut.

An Oneida und der Sherrill Manufacturing Inc. kann man beispielhaft den wirtschaftlichen Wandel in den USA studieren: Seitdem immer mehr Konzerne ins Ausland abwandern, geht der Trend weg von der Produktion und hin zu Dienstleistungen. Inzwischen sind die meisten in den USA erhältlichen Waren importiert. Auf dem Boden der kleinen patriotischen Plastiksoldaten mit US-Flagge steht »Made in China«. Das gleiche gilt für den Duschvorhang im Hotel, für Textilien und Elektroartikel sowieso. Mittlerweile geht das selbst vielen preisbewussten US-Amerikanern zu weit. »Made in USA« hat sich zu einem Nischensegment am Markt entwickelt, für das patriotische Verbraucher schon mal tiefer in die Tasche greifen. Gregory Owens setzt auf diese Nische: Er produziert in den Fabrikhallen von Oneida wieder Besteck »Made in USA«. Kleinserien, die teurerer sind als die Konkurrenz aus Asien. Aber »zu Hause« hergestellt.

Ein Versuch ganz im Sinne von US-Präsident Barack Obama, der versucht mit Finanzspritzen und Steuererleichterungen neue Jobs im Lande zu fördern. So hatte er umfangreiche Maßnahmen zur Bekämpfung der steigenden Arbeitslosigkeit vorgelegt, zum Beispiel Steuererleichterungen für die ökologische Sanierung von Häusern. Derzeit ist angesichts der negativen Außenhandelsbilanz und der lange Zeit übermäßigen Konzentration auf den Dienstleistungssektor die industrielle Produktion wieder im Aufwind.

Um die ganze Geschichte der Besteckherstellung in Oneida zu begreifen, ist es notwendig, die Kenwood Avenue hinunter zu fahren. Denn die Stadt stand und steht nicht nur für den noch immer bekanntesten US-Hersteller von »Flatware« (Essbesteck), Oneida Ltd.; die Firma entstammt interessanterweise einem utopischen Experiment: einer »Sexkommune« aus dem 19. Jahrhundert. »Das haben sie damals einfach prima gemacht, sie haben aus dem Nichts heraus eine Marke erschaffen. Es gab genug Firmen auf dem Markt, keiner hat nach einer neuen gerufen. Aber sie hatten den richtigen Dreh«, sagt Paul Gebhardt. Er ist Designchef der Oneida Ltd., des US-Marktführers in Sachen Essbesteck mit einem Umsatz von 200 Millionen Dollar jährlich. Der Firmenkatalog ist 211 Seiten dick und listet im Luxussegment etwa das silberne Besteckmodell »Colosseum« auf, »eine Reminiszenz an das antike Amphitheater in Rom«. Im »Fine Dining«-Segment gibt es »Verdi«, das sich laut Katalog durch »geschmeidiges ›Art Deco‹-Design« auszeichnet. Gebhardts Bürowände hängen voller gerahmter Werbeplakate, ein überdimensionaler Suppenlöffel liegt herum. Das Büro befindet sich kaum drei Kilometer von der alten Fabrik entfernt in einem Gebäude, das an ein schottisches Castle erinnert. Schwere Eingangstüren aus Holz, mächtige Steinquader, Fenster mit gotischen Rundbögen und in Zinnen auslaufende Fassaden prägen es. Hier begann der Siegeszug von Oneida Ltd.

1880 gegründet, war die Firma praktisch der Nachfolger der Sexkommune. Ins Leben gerufen wurde diese 1848 von dem Prediger John Humphrey Noyes, der den »Perfektionismus« lehrte - eine Lehre, die das christliche Paradies auf Erden für erreichbar hielt. Grundlage war die Zurückstellung egoistischer Begierden zugunsten der Gemeinschaft. Alles sollte geteilt werden: Besitz, Arbeit und Sexualität. Man lebte zusammen mit Kind und Kegel im Mansion House, einem schlossähnlichen Gebäude und gründete zum Zweck des Lebensunterhalts erfolgreiche Firmen, darunter eine Fabrik zur Herstellung von Tierfallen. Das soziale Experiment funktionierte rund 30 Jahre. 1880 löste sich die Kommune auf, Männer und Frauen kehrten zur Ehe zurück und wandelten die Kommune mitsamt Besitz und Firmen in eine Aktiengesellschaft um. Daraus ging der Besteckhersteller hervor, damals noch unter dem Namen Oneida Community.

In der Hand von Banken

Die heutige Oneida Ltd. hat eine lange Erfolgsgeschichte und einige wirtschaftliche Einbrüche hinter sich. Noch immer nennen 90 Prozent der US-Konsumenten Oneida, wenn nach Besteck gefragt wird. Der Wachstumsmarkt, da ist sich Gebhardt sicher, liegt aber in Asien: »Wöchentlich werden dort neue Hotels eröffnet und die benötigen Geschirr und Bestecke.« Und auch der wachsende Markt für Kreuzfahrtschiffe gehört zu den von Oneida Ltd. anvisierten Kunden. Die Firma ist zum Global Player geworden, der zum Beispiel Trinkgläser aus dem oberpfälzischen Spiegelau bezieht. Ein Merkmal aber hat Oneida Ltd. seit ein paar Jahren eingebüßt: die Herstellung in den USA. Aufgrund wirtschaftlicher Turbulenzen ist die Firma in der Hand von Banken und lässt aus Kostengründen in Asien produzieren.

So ist die industrielle Fertigung aus Oneida fast verschwunden, wie aus vielen Orten der USA. Heute gehören die alten Fabrikanlagen, jetzt unter dem Namen Sherrill Manufacturing Inc., je zur Hälfte Gregory Owens und seinem Kompagnon Matthew Roberts. Die beiden Ex-Mitarbeiter von Oneida Ltd. kauften die Anlage 2005 von ihrem früheren Arbeitgeber. Ein Vertrag sicherte noch drei Jahre die Produktion. Doch im Krisenjahr 2008 war es endgültig vorbei, 80 von 108 Mitarbeitern wurden entlassen, ein Großteil der Maschinen eingemottet.

Wir durchqueren die Halle und treffen schließlich doch einen Arbeiter, der mit der Herstellung einer Kleinstserie beschäftigt ist. 14 Mitarbeiter hat die Sherrill Manufacturing Inc. heute, dazu kommen 25 Zeitarbeiter, die je nach aktueller Auftragslage angeheuert werden. Owens setzt im Gegensatz zum Großkonkurrenten Oneida Ltd. ganz auf die Nische »Made in USA« - und er hat Aufträge. Wie lange, das weiß freilich keiner.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.