Timoschenkos Schatten reicht bis nach Moskau
In der Ukraine blickt man mit Sorge auf den Amtswechsel in Russland
»Die Verfolgung politischer Gegner ist absolut unannehmbar. Man kann im Eifer des politischen Kampfes einmal etwas Böses sagen, aber unterlegene Konkurrenten im Gefängnis? Das ist höchst befremdlich.« Russlands Präsident Dmitri Medwedjew sparte jetzt bei einem Gespräch mit Menschenrechtlern in Moskau nicht mit Kritik an der ukrainischen Führung. Der Fall Timoschenko werfe einen tiefen Schatten auf das Nachbarland. Moskau hatte bereits zuvor massive Vorwürfe im Zusammenhang mit ihrem Prozess wegen angeblich ungünstiger bilateraler Gasverträge erhoben. Man sieht die Verurteilung der Ex-Regierungschefin zu sieben Jahren Haft auch als Druckmittel der Kiewer Führung, neue Gasverträge mit günstigeren Preisen auszuhandeln.
Wie die EU erwartet auch Russland von der ukrainischen Regierung möglichst bald Grundsatzentscheidungen über die künftige Ausrichtung ihrer Politik. Damit grenzen sie den außenpolitischen Spielraum der Ukraine immer weiter ein. Mit gewisser Sorge blickt man deshalb in Kiew auf den bevorstehenden Amtswechsel in Moskau. Der künftige Präsident Wladimir Putin hatte als Ministerpräsident und im Präsidentschaftswahlkampf mehrfach betont, dass er eine Reintegration im postsowjetischen Raum anstrebe und die Ukraine sich entscheiden müsse, ob sie sich daran beteiligt oder nicht. Klar sei, dass es Vorzugspreise für russische Rohstoffe, vor allem Erdgas, nur innerhalb des Integrationsraumes geben könne, auch »halbe« Mitgliedschaften - wie sie in Kiew ins Gespräch gebracht wurden - werde es nicht geben.
Die Ukraine benötigt einerseits einen deutlich niedrigeren Preis für die russischen Erdgaslieferungen, um das Haushaltsdefizit den Forderungen ihrer internationalen Kreditgeber anzupassen und die Freigabe einer weiteren Tranche des IWF-Kredits zu erreichen. Andererseits ist sie mit Blick auf das Assoziierungsabkommen mit der EU nach wie vor nicht bereit, die russische Forderung nach Vollmitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft zu erfüllen. Kompromisslösungen wollte Präsident Viktor Janukowitsch möglichst noch vor dem offiziellen Amtsantritt Putins bei einem Treffen Anfang Mai sondieren. Doch nun wird alles vom Fall Timoschenko überschattet.
Dabei wird die deutliche Aktivierung der Moskauer Politik an der ukrainischen Südwestgrenze - so sollen die in der Dnjestr-Republik stationierten russischen Truppen mit modernen Waffensystemen, darunter auch zur Raketenabwehr, ausgerüstet werden - in Kiew nicht nur von Oppositionspolitikern mit Sorge verfolgt. Befürchtet man doch, dass Moskau gegenüber der Ukraine ebenfalls einen härteren Kurs verfolgen könnte. Russland dürfte dabei die zögerliche Haltung der EU in Bezug auf den Assoziierungsprozess ins Kalkül ziehen. Das von der Ukraine mit der EU ausgehandelte Assoziierungsabkommen wurde zwar nach monatelangem Hinhalten Ende März paraphiert, doch macht die EU sowohl die formale Unterzeichnung als auch die Ratifizierung des Abkommens von »Fortschritten in den Bereichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit« abhängig.
Als Vorwand für die EU-Forderungen dienten schon vor der jüngsten Zuspitzung mutmaßlich politisch motivierte Gerichtsentscheidungen gegen ukrainische Oppositionspolitiker, allen voran Timoschenko - wobei man vernachlässigt, dass politische Entscheidungen über die Aufhebung des Urteils oder über eine Haftverschonung zwecks medizinischer Behandlung ebenfalls einer Rechtsbeugung gleichkämen.
Trotzdem ist ein Einlenken von Präsident Janukowitsch in dieser Frage nicht allein mit Blick auf die Fußballeuropameisterschaft nicht auszuschließen, denn er möchte eine dauerhafte Blockierung des »Kurses der europäischen Orientierung« vermeiden und angesichts der Parlamentswahlen im Oktober auf Erfolge in dieser Politik verweisen können. Allerdings wird von der EU auch ein Ausschluss Timoschenkos von diesen Wahlen für unvereinbar mit einer demokratischen Wahlentscheidung erklärt.
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