Es waren keine Hooligans, sondern Arbeiter

Vor 50 Jahren: Streiks und Demonstrationen in Nowotscherkassk - eine Meuterei á la Kronstadt?

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 5 Min.
Wie der XXII. KPdSU-Parteitag bezogen sich 1962 auch die streikenden Arbeiter auf Lenin.
Wie der XXII. KPdSU-Parteitag bezogen sich 1962 auch die streikenden Arbeiter auf Lenin.

Nach dem »vollständigen und endgültigen Sieg des Sozialismus« beschloss der XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft, in der das Prinzip herrschen werde »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.« Die Lebenswirklichkeit der 200 Millionen Bürger im territorial größten Land der Erde sah jedoch ganz anders aus, als die Propaganda suggerierte. Schlaglichtartig wurde das Anfang Juni 1962 sichtbar, als in den industriellen Ballungszentren Nowotscherkassk, Rostow, Taganrog und Schachty - mit mehr als einer Million Einwohner und einem Territorium, das etwa ein Drittel des Territoriums der BRD entsprach - Massenunruhen ausbrachen, die bereits die Krise des Staatssozialismus sowjetischen Typs signalisierten. Aus den erst 1993 zugänglichen geheimen Archivmaterialien sollen die über drei Jahrzehnte verschwiegenen, blutig geendeten Ereignisse im Südwesten der vormaligen Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) hier in Erinnerung gerufen werden.

Auslöser der Streikbewegung war eine Verordnung der Partei- und Staatsführung um Nikita Chruschtschow vom 31. Mai 1962. Sie sah die Erhöhung der Milch- und Fleischprodukte um bis zu 25 bzw. 34 Prozent vor. Beabsichtigt war, durch marktgemäße Aufkaufpreise die landwirtschaftlichen Produzenten zu höheren Leistungen in der noch immer meist extensiven Viehwirtschaft zu stimulieren, zumal seit 1957 mit der Abschaffung der Privatparzellen der Kolchosbauern und des Privateigentums an Vieh in Arbeitersiedlungen ernsthafte Versorgungsengpässe entstanden waren.

Kolchosbauern und Sowchosarbeiter begrüßten die Reform, nicht aber die städtische Arbeiterschaft. Am 1. Juni 1962 forderten die 11 000 Beschäftigten des Nowotscherkassker Elektrolokomotiven-Werkes »Budjonny«, deren Monatslohn durch die Neuregelung der Arbeitsnormen seit Jahresbeginn um ein Drittel gekürzt worden war, Lohnerhöhungen und Preissenkungen. Da der Betriebsdirektor Kurotschkin jedoch jedwede Gespräche mit ihnen strikt ablehnte, legten sie schließlich die Arbeit nieder.

Eine Gruppe Streikender um den Schlosser Wjatscheslaw Tschernych aus der Stahlgießerei schaltete die Werksirene ein - Signal, dass alle Abteilungen nun die Arbeit niederlegten. 5000 Arbeiter demonstrierten vor dem Verwaltungsgebäude. Ihr Protest blieb unerhört. Erst nachdem einige Streikführer gewaltsam in das Gebäude eindrangen, versuchten der Werkdirektor sowie die herbeigeeilten Leiter der Partei, des Sowjets und des KGB des Gebietes von Rostow die Menge zu beschwichtigen. Sie gingen jedoch auf keine Forderung ein. Daraufhin legten die aufgebrachten Arbeiter die Eisenbahnstrecke Moskau-Rostow-Saratow lahm.

Auch die Nachmittagsschicht beteiligte sich am Ausstand. Ihr gelang es, die inzwischen von der örtlichen Partei- und Staatsmacht herbei beorderten Streikbrecher und zu deren Begleitung abkommandierten 240 Tschekisten und Milizionäre zu verjagen.

Der Chef des Nordkaukasischen Militärbezirkes, General Issa Plijew, verhängte daraufhin um 20 Uhr den Ausnahmezustand in Nowo-tscherkassk und den umliegenden Arbeitersiedlungen. Eine Panzereinheit wurde gegen die Streikenden eingesetzt; sie stieß auf erbitterten Widerstand. Erst am folgenden Tag, dem 2. Juni, um drei Uhr in der Frühe, konnte das Militär das Werkgelände besetzen.

Doch auch die Frühschicht war nicht bereit, unter militärischen Bedingungen die Arbeit aufzunehmen. Der Dreher Sergej Sotnikow, Mitglied der KPdSU, schaltete die Gasverteilerzentrale zur Versorgung benachbarter Betriebe ab. Dem Streik schloss sich ein Dutzend weiterer Betriebe um und in Nowotscherkassk an. Ein Streikkomitee wurde gebildet, das die Forderungen der Arbeiter dem Stadtparteikomitee vortragen wollte.

KGB-Chef Wladimir Semitschastny berichtete der Kremlführung: »Um 9.30 verließen alle Drückeberger (5000 Menschen) das Fabrikgelände, wichen der ersten Panzerreihe aus und bewegten sich nun auf die Stadt zu. Die Hauptkolonne trägt an der Spitze ein Porträt W. I. Lenins.« Die Präsidiumsmitglieder der KPdSU Anastas Mikojan und Frol Koslow wurden ins Krisengebiet entsandt. Sie erklärten der Abordnung aus den Streikbetrieben, die Preiserhöhungen seien alternativlos und würden letztlich die Versorgung der Arbeiter verbessern. Die Fronten verhärteten sich, die Situation eskalierte.

Erst als die Armee in die Menge schoss, wichen die Demons-tranten. 23 Tote blieben auf dem Platz vor dem Domizil des Stadtparteikomitees, über 70 Menschen wurden schwer verletzt. Doch selbst dieser Gewaltakt wie auch die per Lautsprecher übertragenen Beschwörungen der beiden Moskauer Emissäre und die Verhaftungen von 240 Demonstranten konnten die »Unruhen« nicht beenden. Erst am 8. Juni 1962 wurde der Ausnahmezustand in und um Nowotscherkassk aufgehoben.

Zwei Tage später behandelte das KPdSU-Präsidium das Geschehene und bekräftigte, »dass die Militäraktion gut durchgeführt worden sei, es gar keine andere Lösung gab«. Kritisiert wurden die regionalen Parteigebietskomitees, die Schwächen gezeigt hätten, die schleunigst überwunden werden müssten; auch die Arbeit des KGB müsse verbessert werden. Der Direktor des Werks »Budjonny« verlor seinen Posten, der Gebietsparteichef wurde in den diplomatischen Dienst »abgeschoben« und der für das Blutbad verantwortliche General übernahm im Herbst das Kommando der sowjetischen Truppen auf Kuba. Im Juli 1962 informierte der Generalstaatsanwalt der UdSSR, Roman Rudenko und der KGB-Chef Semitschastny das ZK der KPdSU darüber, dass 116 »kriminelle Rädelsführer der Unruhen«, zumeist Arbeiter, in öffentlichen Prozessen auf der Ebene der RSFSR und danach im Gebiet Rostow »zur Verantwortung gezogen« werden.

In den Verhandlungen des Obersten Gerichts der RSFSR vom 20. bis 22. August 1962 wurden Sotnikow und sechs parteilose Arbeiter zum Tode durch Erschießen verurteilt, sieben Angeklagte erhielten Lagerhaft zwischen fünf und 15 Jahren. Zum Prozess waren etwa 500 ausgesuchte Vertreter aus Betrieben geladen, die danach in zahlreichen Versammlungen über die »gerechte Aburteilung« der als »Verbrecher und Hooligans« bezeichneten Streikführer berichten sollten. Der Generalstaatsanwalt vermerkt in seinem Rapport an Chruschtschow: »Die öffentlichen Gerichtsverhandlungen hatten großen erzieherischen Einfluss auf die Bevölkerung der Stadt.«

Nicht nur im Gebiet Rostow am Don, auch in Kriwoi Rog, Kemerowo, Omsk, Minsk, und Leningrad gab es damals Streiks und Demons-trationen sowie analoge Prozesse, in denen insgesamt 323 Personen wegen angeblicher »antisowjetischer« Delikte zu Haftstrafen verurteilt wurden.

Diese Geschehnisse von 1962 in der größten Republik der Sowjetunion offenbarten: Knapp ein Jahrzehnt nach Stalins Tod hatte sich - trotz der Anprangerung von dessen Willkürherrschaft und Verbrechen durch Chruschtschow auf dem XX. Parteitag - wenig an den Grundstrukturen des von jenem mitgeschaffenen Gesellschaftssystems und am politischen Umgang der Herrschaftseliten mit der Bevölkerung, vor allem gegenüber den Industriearbeitern, geändert. Insofern ist der Protest der Arbeiter 1962 vergleichbar mit der Erhebung der Kronstädter Matrosen 1921 gegen die Führung der Bolschewiki - gespeist aus Enttäuschung und Empörung und brutal niedergeschlagen von einer selbstherrlichen, Arbeiterproteste ignorierenden Macht.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: