Flirtende Wahrheit

José María Arguedas und sein Klassiker »Die tiefen Flüsse«

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Als junger Mann, in den Sechzigern, reiste der Schriftsteller Mario Vargas Llosa ein paar Wochen durch den peruanischen Dschungel, ein weißer Städter in der Welt der Amazonas-Indianer. Die Reise sollte ihn prägen, sein Werk, seine Weltsicht. Andere Indios - Quechua, die Bewohner der Berge - kannte der Erzähler aus Lima und von Fahrten durch die Anden. Vargas Llosa hat später oft über die fremden Universen geschrieben, er ist als Romancier zur Institution geworden, 2010 bekam er den Nobelpreis. Im Schatten seines Ruhms verblasste die Leistung eines Landsmannes und Kollegen, dem Vargas Llosa viel zu verdanken hat. Auch er war ein großartiger Dichter, in ganz Lateinamerika gilt er als Wegbereiter moderner Erzählkunst: José María Arguedas (1911-1969).

Wer war dieser Arguedas? Ein chilenischer Autor namens Luis Harss ist dem Peruaner auf einer Tagung in den Sechzigern einmal begegnet: einem kleinen, dunklen Mann, der einsam in einer Ecke Flöte spielte. »Seine Gegenwart löste Beklemmung in mir aus, tödliche Angst«, erinnert sich Harss. »Arguedas wirkte verloren, als wäre er an dem Versuch, seine Welt in Worte zu fassen, zugrunde gegangen.« Beklemmung, Angst, Verlorenheit: Arguedas litt an einer Depression; als sie zu stark wurde, hat er sich erschossen.

Man muss die Vita dieses Mannes kennen, um sein Werk zu verstehen. Arguedas, geboren in einem Ort in den Anden, lebte als Kind auf einer Hacienda unter Indios, er erlebte die Demütigungen, auch ihre archaischen Feste, und er sprach Quechua als Muttersprache. Später reiste er mit dem Vater, einem politisch verfolgten Anwalt, kreuz und quer durch das Hochland; er wurde - sagte er selbst - in dieser Zeit selbst zum Quechua. In Lima studierte Arguedas Anthropologie, ab 1957 war er Professor.

Zerrissen zwischen zwei Kulturen fühlte der Moralist zeitlebens eine Mission: die Mission, Stimme der Stimmlosen zu sein. Er forderte Wertschätzung für die indianischen Kulturen, er wollte ihr Bild in der Literatur korrigieren. »Indigenismus« heißt diese ideologisch geprägte Spielart der Kunst; bei den Peruanern förderte sie positive Gefühle für Land und Kontinent.

Arguedas' erstes Buch erschien 1935, drei Bücher folgten. 1958, publizierte der Anthropologe jenen Roman, der ihn bekannt machte: »Die tiefen Flüsse«. Er erzählt ein Stück der eigenen Geschichte: die eines Jungen, der mit seinem Vater durch die Anden von Dorf zu Dorf reist. Der Junge (Ernesto) lerntdie raue Natur Perus respektieren, die Berge, Wüsten, Flüsse, miit Ehrfurcht erkundet er die Überbleibsel der Inka-Kultur - Cuscos mächtige Mauern und die Mythen der Quechua. Als Zögling einer katholischen Internatsschule spürt Ernesto dann den Hass, die ewige Feindschaft zwischen Braun und Weiß. Dies ist ein krankes System, doch eines Tages, so der Autor, wird es davongespült - von einem wilden Fluss oder einem Strom aus Menschen, einer unüberschaubaren Menge pestkranker Indios aus den Haciendas der Region. 1965 erschien der Roman auf Deutsch, er erlebte in Deutschland West und Ost mehrere Ausgaben. Der Berliner Wagenbach Verlag bringt das Buch nun ein weiteres Mal, in der ursprünglichen Übersetzung von Suzanne Heintz. Frage an den Verlag: Warum? Weil das Werk seit bald zwanzig Jahren vergriffen sei. Und weil der Roman zu den Klassikern Lateinamerikas gehöre, ein kanonischer Text.

Mario Vargas Llosa ist kein Freund des Indigenismus, eine Glorifizierung autochthoner Kulturen lehnt er ab. Und doch hat er dem Kollegen Arguedas, diesem einsamen, kleinen, dunklen Mann, vor Jahren einen einfühlsamen Essay gewidmet. Der Anthropologe, so schrieb Vargas Llosa, habe in seinen Texten mitnichten die andine Realität gespiegelt. »Sein Werk stellt eine radikale Negation der Welt dar, die ihm das Vorbild liefert: eine schöne Lüge.«

Eine Lüge? Der Geschichtenerzähler Vargas Llosa wollte den Begriff nicht als Vorwurf verstanden wissen. Die Wahrheit der Literatur sei eine tiefere, sagte er, nicht historisch zu messen, nicht soziologisch und schon gar nicht am realen Modell. »Eine flirtende Wahrheit« nannte Vargas Llosa diese Art Wahrheit. José Maria Arguedas habe der Welt etwas geschenkt, »das nicht existierte, bevor er es erfand«. Was ließe sich Schöneres sagen über die schöne Literatur.

José María Arguedas: Die tiefen Flüsse. Aus dem peruanischen Spanisch von Suzanne Heintz. Wagenbach. 288 S., brosch., 12,90 €.

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