Der kalte Dauerbrenner

Kay Wuschek inszenierte »Nicht Chicago. Nicht hier« im Theater an der Parkaue

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt Regeln. Jeder Mensch erprobt früh, wie nah er einem anderen kommen darf. Er testet es, bekommt Konsequenzen zu spüren, wenn er unerlaubt Grenzen überschreitet, lernt daraus. Normalerweise funktioniert das. Keineswegs aber in »Nicht Chicago. Nicht hier« im Jungen Staatstheater Berlin. Nach Michael Müllers Fassung des Buches von Kirsten Boie brachte Kay Wuschek das Stück für Jugendliche ab 11 Jahren an der Parkaue als Uraufführung heraus. So wie er es schon bewies, behutsam Themen auf der Bühne umzusetzen, so unbarmherzig zupackend vermag er es hier.

Das Stück ist ein Psychothriller. Die Bösartigkeit krampft einem den Magen zusammen. Natürlich drängt sich die Frage auf, ob sich so etwas für die Altersgruppe eignet. Tatsache aber ist, dass man alle hier auftauchenden Zusammenhänge braucht, um die Geschichte zu erzählen. Kinder werden heute früh mit Gewalt konfrontiert. In der Komplexität des Stücks finden sich die Heranwachsenden durchaus mit ihren Problemen wieder. Die gesamte Tragweite, das von Erwachsenen wahrgenommene Entsetzen, erfassen sie nicht. Dazu fehlt es an Lebenserfahrung. Die Schauspieler aber durchleben den Schrecken. Man sieht es ihnen am Ende an. Sicher, sie machen ihre Arbeit. Ohne Emotionen wäre sie schlecht.

Geborgenheit in einer Familie ist zunächst einmal ein verlässlicher Schutz. Im Stück wird er gezielt aufgebrochen. Der 13-jährige Niklas, gut aufgehoben bei Mutter, Vater, Schwester, hat zu Hause ein normales, harmonisches Leben. Mit den üblichen Querelen versteht sich, die die Pubertät für alle Beteiligten mit sich bringt. Die Familie lebt in einer Siedlung. Alles recht brav, freundlich.

Noch kindlichen Schmerz zeigt Johannes Hendrik Langer als Niklas über den Verlust seines aus dem Stall verschwundenen Kaninchens. Sein neuer Mitschüler Karl, dem er arglos vertraut, steckt dahinter. Karl ist nicht einfach böse. Der Junge ist - was auch immer ihn dazu brachte - ein Psychopath, der sich sein Opfer wählte. Immer tiefer dringt er in Niklas' Leben ein, der es nicht vermag, ihn zu stoppen. Karl bestiehlt ihn. Jetzt - nur dies eine Mal - wendet sich Niklas ans Publikum und sagt, er hätte an diesem Punkt die Hilfe der Eltern suchen müssen, dann wäre alles anders gekommen. Aber er deckelt und lässt damit Karl zum Dauerbrenner werden, der ihn verletzt, bedroht und letztlich die ganze Familie terrorisiert. Kalten Hohn bringt Paul Maresch dafür konstant in die Rolle ein.

Es zeigt sich, dass niemand fähig ist, Karl aufzuhalten. Die Ereignisse stellen das Vertrauen zwischen Niklas und seinen Eltern - überzeugend alltäglich gegeben von Daniella Schneider und Stefan Kowalski - auf eine harte Probe. »Wir sind doch hier nicht in Chicago!«, ruft der Vater aus. Schneller an der Realität ist Franziska Krol als die Schwester Svenja, die, ihrem Gefühl vertrauend, sofort spürte, dass mit Karl etwas nicht stimmt.

Intelligent und konsequent geht Karl vor, weiß als Mitläufer Mitschüler und seine sich blind stellenden Eltern für »Spielchen« einzusetzen. Das abweisend kahle Bühnenbild von Florent Martin aus mit Kunstrasen bespannten Blöcken unterstützt die Charakterisierung seines Wesens. Ausgezeichnet nutzt Wuschek die Blöcke auch als Barriere, als der Vater Anzeige erstatten will. Hochschwelliges Angebot nennt man den Abstand, mit dem sich Lutz Dechant, gut den desillusionierten, müden Polizisten spielend, die Beweise reichen lässt. Wissend, dass die Sache aussichtslos enden wird. Zwischen Nicht-wahr-haben-wollen und Sich-vom-Halse-halten, bewegt sich Elvira Schuster als flott frisierte Lehrerin. Thomas Pasieka gibt burschikos den Mitläufer Rocky. Auch Jannis, den zweiten, den es eigentlich nicht braucht.

Bestürzende Hilflosigkeit mit trauriger Konsequenz nach 85 Minuten. Im Innersten schwer beschädigt pumpt sich das Opfer Niklas auf wie der Täter Karl anfangs: »Ich mach ihn tot!«.


18.6., 18 Uhr, 19.6., 10 Uhr, Theater an der Parkaue, Parkaue 29, Lichtenberg, 55 77 52 51 -53, www.parkaue.de

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