Im Entertainmentdelirium
Der 24-stündige Theatermarathon »Unendlicher Spaß« des Hebbel am Ufer
Es ist halb sieben in der Frühe. Etwa 100 Personen entsteigen zwei BVG-Bussen vor dem HAU 1, um die letzte Etappe des 24-stündigen Theatermarathons »Unendlicher Spaß«, dem zweiten großen Abschiedsevent von HAU-Intendant Matthias Lilienthal, in Angriff zu nehmen. Unendliche Müdigkeit lässt ihre Augenlider immer schwerer erscheinen, während auf der Bühne die Schauspieler Samuel Finzi und Martin Butzke das letzte Kapitel des über 1000 Seiten starken Romans »Unendlicher Spaß« von David Foster Wallace lesen und die weißrussische Bassgöttin Polina Lapkovskaya alias Polly Esther tiefe Töne von den Saiten und aus ihrer Kehle tropfen lässt. Butzke konstatierte nach der Vorstellung amüsiert: »Am prächtigsten waren die Zuschauer, die ganz tapfer gegen die Müdigkeit ankämpften. Als ich kurz auf den Text blickte und danach wieder hochschaute, waren auch ihre Köpfe zur Seite abgeknickt und die Augen geschlossen.«
Immerhin ging es ihnen nicht so wie den Konsumenten des Films »Unendlicher Spaß«, der ein zentrales Element des gleichnamigen Romans ist. Die können ihre Augen nämlich nicht mehr wegwenden vom Film. In infantilem Gelächter vergessen sie selbst Essen und Trinken und gehen damit einem sehr blöden Tode entgegen. »Unendlicher Spaß« ist eine grausige Sience Fiction-Komödie, geschrieben 1996, als der Kapitalismus als das Ende aller Geschichte erschien. Foster Wallace zeichnet dieses Ende als ein bizarres Entertainmentdelirium aus. Er verknüpft es mit Verschwörungen und Verschwörungstheorien. Das ist nur konsequent. Denn Verschwörungstheorien sind nichts als Abspaltungen unterdrückten Wissens, Verschwörungen sind deformierte Revolten und beides ohnmächtige Reaktion auf ein differenziertes Manipulationsprogramm von Weltwahrnehmung. Dass die Protagonisten selbst grausam verunstaltet sind - durch Berufslaufbahn und Karrierezwang, durch Alkohol und Drogen, durch Krankheit und Selbstverstümmlung - verwundert kaum.
Diese schwarze literarische Utopie ließen das HAU und die mit ihm verbundenen 13 Künstlergruppen auf eine andere verrottete Utopie prallen: Die Architekturmoderne der 70er Jahre in ihrer Westberliner Ausprägung. Schon die Begegnung mit ihr ist die Reise wert. Die wuchtige Fassade des sogenannten »Mäusebunker«, einem Tierversuchslabor der FU, mutet wie eine Trutzburg finsterer Hexenmeister an. Sie steht in schrillem Kontrast zu der quietschbunten spätkonstruktivistischen Innengestaltung des Finanzamtes Reinickendorf. Sanft hingegen schmiegen sich die Bauten des Klinikums Neukölln in die eigens für sie konzipierte Parklandschaft. Am spektakulärsten freilich sind zwei Zweckbauten - die gewaltigen Röhren des Umlaufkanals des Instituts für Wasser- und Schifffahrtstechnik der TU und die weißen Kugeln der ehemaligen Abhörstation der US-Amerikaner auf dem Teufelsberg.
An beiden Orten inszeniert der New Yorker Regisseur Richard Maxwell die Begegnung eines Mehrfachagenten einer kanadischen Separatistenorganisation - der sich wie alle Mitglieder dieser Organisation aufgrund von Beinamputationen im Rollstuhl fortbewegt - mit einem sich gerade einer Geschlechtsumwandlung unterziehenden Abgesandten US-amerikanischer Geheimdienstbehörden. Maxwell schlägt aus dem zauberhaften Ambiente allerdings kein Kapital. Sein simples Steh- und Sprechtheater kann die Diskurse über Verrat und Loyalität, über Technologie und Macht nicht mit der auratischen Umgebung amalgamieren.
An diesem theatralen Tiefpunkt der 24-stündigen Unternehmung wird das Publikum aber von der akustischen Qualität der Kugeln auf dem Teufelsberg, dem faszinierenden Blick auf die Stadt von dort und dem technoiden Gepräge der künstlichen Wasserstraße im Tiergarten versöhnt.
Theatraler Höhepunkt war die von zwei Performern bespielte Video-, Sound-, und Rauminstallation von Chris Kondek. Er pickte sich eine der Nebenfiguren des Romans heraus und setzte dessen skurrilen Beschaffungsversuch von 200 Gramm Marihuana in Szene. Akustisch verstärkt sind die Schritte des Mannes, der unruhig auf seine Lieferantin wartet. In kleinen, engen Räumen zeugen Installationen von den Präparationen auf den Drogentrip, seinen erwartbaren Inhalten und den Spuren, die er in der Wohnung hinterlassen wird. Kondek bietet jene Vielzahl von Assoziationsschichten an, die Foster Wallaces Roman auch auszeichnet.
Einige seiner Theaterkollegen beschränkten sich leider nur auf eine Möblierung des Romans. Anna Viebrock richtete eine typisch verwahrloste Viebrock-Klinik in der aufgegebenen Großküche des Krankenhauses Neukölln ein. Peter Kastenmüller schuf einen Abklatsch der Tennisakademie, die von dem Autor des ominösen Films »Unendlicher Spaß« gegründet wurde und die daher zum Anlaufpunkt für Geheimagenten wird.
Als wandernder und oft gefahrener Zuschauer begab man sich für die Dauer von 24 Stunden in eine Parallelwelt. Dies bleibt vielleicht die stärkste Erfahrung: Sich zum einen dem Luxus hingegeben zu haben, 24 Stunden aus dem alltäglichen Zeitregiment herausgeschnitten zu haben und bei der Wahrnehmung des Ganzen an die Grenzen der eigenen physischen Leistungsfähigkeit geraten zu sein. Eine Schlafphase später weiß man freilich auch: »Unendlicher Spaß« mündet in endliche Erschöpfung.
Bis 27.6., Mi. und So., Treff 9.30 Uhr, S Grunewald. Info: www.hebbel-am-ufer.de
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