Europäisierung von unten
Kommentar von Kurt Stenger
Fiskalpakt, permanenter Rettungsschirm, Bankenunion, Haushaltskoordinierung, gemeinsame Schuldenhaftung - für die EU-Bürger ist schon lange nicht mehr zu überblicken, wie der Euroraum im Einzelnen umgekrempelt werden soll. Auch was die unterschiedlichen Vorhaben für sie eigentlich bedeuten, liegt im Dunkeln. Doch statt ausführlich zu informieren und eine Debatte über die weitreichenden Vorhaben zu ermöglichen, macht die politische Klasse in Europa das Gegenteil: Die Staats- und Regierungschefs beschließen hinter verschlossenen Türen in nächtlichen Sitzungen etwas, was die Parlamente unter Zeitdruck abnicken müssen. In diesen Tagen ist es wieder so: Bundestag und Bundesrat stimmen im Hauruck-Verfahren über ein kompliziertes Paket ab, das die meisten Abgeordneten nicht wirklich kennen, während auf einem EU-Gipfel schon die nächsten Projekte ausgemauschelt werden.
Dass dies auf breites Unbehagen stößt, liegt nicht nur an den unterschiedlichen (finanz-)politischen Traditionen im Euroraum, die nicht recht unter einen Hut passen wollen. Es ruft auch alle möglichen Kritiker auf den Plan, die völlig konträre Ziele verfolgen: solche, die sich um die Demokratie sorgen und die Banken entmachten wollen, aber auch solche, die weniger Euro(pa) und eine autoritäre Renationalisierung anstreben. In Deutschland bindet die Kanzlerin relativ erfolgreich die konservativen Kräfte ein, indem sie zwischen europäischer Krisenreaktion und nationalistischen Stimmungen hin und her surft. Staatsschulden sind böse, die Südeuropäer faul, die Stabilität des Geldes ist das höchste Gut der Finanzpolitik - Publikationen von »FAZ« bis »Bild« geben den Ton an. Deutschland soll maximal vom Euro profitieren, auch wenn die anderen untergehen, lautet die Botschaft. Statt Solidarität mit schwachen Euroländern zu üben, verschärft die Kanzlerin die Kluft innerhalb der Währungsunion. Genau hier setzt das Spekulieren gegen den Euro an. Daher wird sich die Krise weiter zuspitzen. Und sobald Athen den Euro verlassen muss und der erste Griechenland-Kredit platzt, für den der hiesige Steuerzahler haften soll, wird Angela Merkels Strategie gescheitert sein. Ein Rechtsruck (nicht nur) in Deutschland wäre die Folge.
Die fortschrittliche Alternative zu technokratischer Europäisierung und nationalistischer Reaktion kann nur eine demokratische Europäisierung sein - durch massive Aufwertung des Europaparlaments gegenüber EU-Kommission und Ministerrat, durch europäische Bürgerinitiativen und EU-weite Volksabstimmungen. Eine erfolgreiche Strategie Europas gegen die Krise benötigt nicht allein finanztechnische und wirtschaftspolitische Maßnahmen, die auf eine Vergemeinschaftung hinauslaufen, sondern vor allem auch eine Beteiligung der Bürger. Auf dieser Grundlage ließen sich demokratische Entscheidungen fällen, die nicht alle paar Wochen in Frage gestellt würden. Nur wenn Europa trotz aller regionaler Unterschiede an einem Strang zieht, kann auch die Entmachtung der Finanzmärkte gelingen. Ansonsten, das ist immer offensichtlicher, wird uns die Krise noch sehr sehr lange begleiten.
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