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Wo selbst erfolgreiche Integration in Dramen endet

Abschiebepraktiken in der Schweiz - der Dokumentarfilm »Vol Spécial« (Sonderflug) zeigt schockierende Beispiele

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Schweizer Fernand Melgar filmte in einem Abschiebezentrum bei Genf, in dem die Insassen bis zu anderthalb Jahren festsitzen, ohne Prozess oder Verurteilung, während laufender Antragsverfahren. Weil sie keine Papiere haben - oder jedenfalls nicht die richtigen. Ein Schweizer Sozialversicherungsausweis reicht da nicht, auch wenn man schon seit Jahrzehnten Nettozahler ist.

Frambois, wo Melgar »Vol Spécial« (Sonderflug) drehte, ist eine Haftanstalt, die sich beschönigend Abschiebezentrum nennt. Kosovaren, Kameruner, Senegalesen, Nigerianer versuchen dort, sich ihren Glauben daran zu bewahren, dass dieses Haus hinter doppeltem Drahtverhau nicht das letzte Stück Schweiz sein wird, das sie je betreten. Aber es nimmt nur selten ein glückliches Ende, wenn jemand erst mal hier gelandet ist. Der Druck, lieber »freiwillig« zu gehen, als sich mit behördlicher Gewalt abschieben zu lassen, ist immens.

Gleichzeitig ist das Personal, das jahrelanges Bangen und selbst erfolgreiche Integration wieder und wieder in Dramen enden sah, um die Deeskalation hochkochender Emotionen bemüht. Tagsüber beschäftigt man die Häftlinge in Werkstätten, in der Küche suggeriert man ihnen mit kontrollierter Selbstversorgung einen Rest an Unabhängigkeit, Überwachungskameras sind allgegenwärtig, und nachts wird weggesperrt.

Wer hier die Aufsicht hat, lernt Menschen kennen, nicht Aktenzeichen. Und leidet sichtlich mit, wenn für Ragip, Serge oder Jeton der bittere Tag des Abschieds aus dem Heer der Hoffnungsvollen schließlich wirklich kommt. Doch die Entscheidungsgewalt über ihr weiteres Schicksal liegt außerhalb des Hauses. Schon der Anstaltsleiter hat gegen die stets drohende Depression seiner Schutzbefohlenen kaum mehr als den praktischen Rat parat, dass es der Moral schade, die Körperhygiene zu vernachlässigen.

Frambois ist nicht der einzige Ort, an dem Melgar den merkwürdigen Schwebezustand hätte filmen können, in dem sich die Abschiebehäftlinge befinden: Es gibt noch 27 weitere solche Zentren alleine in der kleinen Schweiz. Wer sich schließlich fügt und in die Maßnahme einwilligt, wird mit einem regulären Linienflug zurückverbracht, Handschellen gibt es dann »nur« auf dem Weg zum Flughafen. Wer erst auf ultimative behördliche Anordnung »geht«, der wird auf einen Sonderflug gebucht. In der Schweiz ist das Bundesamt für Migration dafür zuständig. Sonderflüge sind teurer, weil ein Flugzeug angemietet werden muss. Dafür lassen sie eine andere Handhabung zu. Von Fesseln, Windeln, Helmen ist die Rede - damit der Gefangene einen ganzen Flug lang nicht mit dem Gang auf die Toilette die Sicherheit der mitfliegenden Ordnungskräfte gefährde.

Die lebensverändernde Nachricht vom imminenten Abflug wird in einem spartanischen Unterredungszimmer so schonend wie möglich, aber auch in einem nüchternen Ton überbracht, der deutlicher als alles andere belegt, dass der Abzuschiebende jetzt wirklich nichts mehr ist als ein potenzieller Problemfall, sollte er versuchen, sich zu widersetzen. Wie viele Ordnungskräfte man brauchen werde bei so und so vielen Häftlingen, wird von Amtsseite vorher genau festgelegt - nach der Wahrscheinlichkeit einer gewaltsamen Reaktion. Sobald der Moment da ist, dürfen die Abschiebekandidaten nicht einmal mehr in ihre Zelle. Das Packen übernehmen andere, der Häftling ist jetzt nur noch das, ein Durchlaufposten in der Zwangsverschickung.

Melgar drehte gerade in Frambois, als nach dem Tod eines maskiert, gefesselt im Sitzen transportierten Sonderflugpassagiers im März 2010 das inhumane Verfahren eine Zeit lang ausgesetzt wurde. Die Zeit währte nicht lange. Drei der Insassen von Frambois waren Augenzeugen - ihre zutiefst verstörte Reaktion filmte Melgar gleich mit. Diesem Opfer eines Sonderfluges, Joseph Ndukaku Chiakwa, widmete Melgar seinen Film, der in Leipzig und beim DOK.fest München zu sehen war.

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