Was tun mit dem Verfassungsschutz?

Abschaffen oder reformieren - auch die Linkspartei ist sich da uneins

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Rechtsblindheit deutscher Sicherheitsbehörden, die zehn rechtsextremistische Morde, Bombenanschläge und Banküberfälle ermöglicht hat, ist ein bundesweiter Skandal erste Güte. Im Zentrum der Kritik - Geheimdienste. Was tun mit den Relikten des Kalten Krieges? Die Frage treibt plötzlich Politiker aller Parteien um.

»Man muss natürlich grundsätzlich über die Arbeitsweise dieser Behörde Verfassungsschutz sich Gedanken machen, über den Aufbau, die Mentalität, ob es noch zeitgemäß ist, ob man einiges ändern muss, und dann natürlich auch die Frage der Kontrolle durch die parlamentarischen Gremien.« Das sagte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) nachdem die Vernichtung von Verfassungsschutzakten zur Operation »Rennsteig« aufgeflogen ist und der Chef des Bundesamtes (BfV), Heinz Fromm, um seine Berentung ersucht hatte.

Eilig hatte Friedrich denn auch die Mitglieder des Bundestag-NSU-Untersuchungsausschusses eingeladen, die noch vorhandenen BfV-Akten zum Thüringer Heimatschutz, der Keimzelle des terroristischen »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) zu lesen. Im Geheimen versteht sich, Notizen nicht erlaubt. Was Friedrich quasi als letztes Bollwerk gedacht hatte, um nicht - wie seine Vorgänger Otto Schily (SPD), Wolfgang Schäuble und zunehmend auch Thomas de Maizière (beide CDU) - selbst in den Skandalstrudel gezogen zu werden, lässt bei Lichte besehen Respekt vor den Volksvertretern vermissen. Seit März liegen die entsprechenden Beweisbeschlüsse des Untersuchungsausschusses und damit die Pflicht zur Herausgabe auf dem Tisch seines Ministeriums und des BfV. Nun, in die Enge getrieben, lässt er die Abgeordneten wenige Stunden vor der Fromm-Vernehmung mal rasch blättern in 34 Ordnern mit Tausenden ungeschwärzten Seiten. Acht Ordner davon betreffen die Operation »Rennsteig« an der das BfV, das Thüringer Landesamt und der Militärische Abschirmdienst (MAD) zwischen 1997 und 2003 beteiligt waren.

Zeit wird knapp

Nachdem Fromm nicht mehr zu halten war, hat auch die schwarz-rote Koalition in Thüringen festgestellt, dass der Chef des dortigen Landesamtes, Thomas Sippel, nicht mehr das Vertrauen des Parlaments genießt. Bislang schickte das Landesamt dem Untersuchungsausschuss drei Aktenordner - plötzlich tauchen ganz viele auf. Zwischen 300 und 600 sind avisiert.

Zeit ist ein großes Problem vor allem für den Berliner Untersuchungsausschuss. Nach Fromms Vernehmung ist Sommerpause, die Weihnachtsferien sind auch noch abzurechnen, bis im März der Wahlkampf beginnt. Schon jetzt ist absehbar, dass die Untersuchungen nicht ohne Substanzverlust abgehen. Zumal schon jetzt diverse Vorstellungen über notwendige Schlussfolgerungen für die Sicherheitsarchitektur auf dem Medienmarkt ausgelegt werden. Darunter sind auch solche, die in den Versagerbehörden und deren vorgesetzten Ministerien entstanden sind. Da ist wohl Vorsicht angesagt. Ebenso bei dem Gedanken, der Polizei Geheimdienstaufgaben zu übertragen.

»Wir brauchen bei den Behörden einen umfassenden Mentalitätswechsel. Verfassungsschützer müssen nicht in erster Linie Geheimdienstler sein, sondern geschulte Demokraten, mit einem richtigen Gespür für die Gefahren, die unserer Demokratie drohen«, sagt Thomas Oppermann. Der parlamentarische SPD-Geschäftsführer ist Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums und dort noch nicht als Reformator aufgefallen.

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger meint, Reformen würden »immer aktueller, seitdem wir gesehen haben, was bei der ›Zwickauer Zelle‹ und den NSU-Taten (...) schiefgegangen ist.« Man brauche eine Veränderung, »damit wir zukünftig einen gut kontrollierten und handlungsfähigen Verfassungsschutz haben«. Grünen-Chefin Claudia Roth sprach sich dagegen für eine mögliche Abschaffung aus. »Verfassungsschutzämter in Bund und Ländern haben sich zum blinden Fleck der Demokratie entwickelt«, sagte sie der »Frankfurter Rundschau«.

Feuerwehr als Vergleich

Und wie schaut es bei der LINKEN aus? Eigentlich ist alles klar, denn: »Wir wollen die Geheimdienste abschaffen«, liest man im Parteiprogramm. Doch so einfach ist das wohl nicht. Der Bundesvorsitzende Bernd Riexinger stellt im dpa-Gespräch die Frage: »Wozu braucht es einen Inlandsgeheimdienst, der die Ermittlungen zur NSU-Mordserie in die Irre führt und dann auch noch Akten schreddert, die damit im Zusammenhang stehen? Das ist nicht nur unprofessionell, sondern in höchstem Maße demokratiegefährdend.«

Schweres Geschütz gegen eine Abschaffung des Dienstes hingegen fährt der parteilose Bundestagsabgeordnete und Linksfraktionsvertreter im Parlamentarischen Kontrollgremium Wolfgang Neskovic auf. Der einstige Bundesrichter warnte vor einem Verfassungsverstoß. Man dürfe das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. »Die Feuerwehr wird auch nicht abgeschafft, wenn sie bei der Brandlöschung versagt. Ein Verfassungsschutz ist notwendig, weil die Verfassung echte Feinde hat. Die Aufgabe, die Verfassung zu schützen, kann ohnehin nicht abschafft werden. Das lässt unsere Verfassung nicht zu. «

Statt Abschaffung des Verfassungsschutzes müsse man den Verfassungsschutz gründlich evaluieren und umfassend reformieren. Die Dienste würden sich der administrativen und auch der parlamentarischen Kontrolle mit dem Zauberwort »geheim« entziehen. »Immer dann, wenn die Exekutive oder das Parlament kontrollierend auf die Geheimdienste Zugriff nehmen, entmutigen sie die Kontrollorgane, indem sie auf den Geheimnisschutz verweisen«, fasst Neskovic seine Erfahrungen als Geheimdienstkontrolleur zusammen.

»Der Verfassungsschutz hat nicht nur Fehler gemacht, er ist der Fehler«, betont dagegen Fraktionskollegin Ulla Jelpke. Die Vernichtung von Akten zum V-Leute-Einsatz in der Neonaziszene sei nur das i-Tüpfelchen in einer Kette von Skandalen. Definitiv verlangt Jelpke die Auflösung der »demokratisch nicht zu kontrollierenden« Verfassungsschutzämter.

Petra Pau, Obfrau im Bundestagsuntersuchungsausschuss kann sich die Auflösung auch in drei Schritten vorstellen. Erstens: Schluss mit der V-Leute-Praxis. Zweitens: Aufgabe der Geheimniskrämerei. Drittens: Umbau zu einer Art wissenschaftlichem Dienst zur Beratung der Politik. Grundsätzlich bleibt sie aber bei der LINKEN-Forderung nach einem unabhängigen Beobachtungszentrum für Rechtsextremismus. Foto [M]: photocase/jala

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