Entscheidungen über Leben und Tod
»Nackt unter Wölfen« - der Jahrhundertroman von Bruno Apitz in einer vollständigen Ausgabe
Im Umfeld der Einweihung von Fritz Cremers Buchwalddenkmal 1958 empfahl mir eine mit der Familie befreundete Bibliothekarin ein Buch, das sich keineswegs leicht lesen ließe und schon gar nicht zum Vergnügen. Ich sei aber in einem Alter, 13 oder 14 damals, in dem ich wissen müsste, was auch zur Geschichte Thüringens gehörte. Ich würde sicher Fragen haben. Die Eltern oder auch sie stünden zur Verfügung, soweit sie könnten …
»Nackt unter Wölfen«: Die Geschichte eines dreijährigen Jungen, der von KZ-Häftlingen in Buchenwald versteckt wurde und so überleben konnte, entsprach meinen damals schon durch Leonhard Frank geprägten humanistischen Vorstellungen: Der »Mensch ist gut«, selbst wenn Umstände animalisch sind, abseits aller Normen des menschlichen Seins. Die Rettung eines Kindes steht über allem, selbst wenn damit eine zum Nutzen aller Häftlinge geplante Aktion hätte gefährdet werden können.
Von der Selbstbefreiung der Häftlinge in Buchenwald (in Wirklichkeit im Schutz der herannahenden US-Armee) war ich von Anfang an überzeugt und dass diese nur unter Führung der Kommunisten stattfinden konnte, sowieso. Mit kindlichem Verstand erschloss ich mir über das Lagerkomitee die Nützlichkeit internationalistischen Handelns, eine naive Rezeption im Kontext der Zeit.
Der Frank-Beyer-Film mit Erwin Geschonneck und Armin Müller-Stahl tat sein Übriges, die Wirkung des Buches nicht nur am Leben zu halten sondern zu verstärken. Die Tränen beim Abspann verschweige ich auch heute nicht.
Ob wir das inzwischen in 30 Sprachen übersetzte und in mehr als drei Millionen Exemplaren erschienene Buch von »Buchenwald-Häftling Nr. 2417«, Bruno Apitz, auch in der Schule behandelt haben, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls erinnere ich mich noch gut an dessen Lesung während eines internationalen Germanisten-Ferienkurses in Weimar Ende der 60er Jahre. Damals stellten ausländische Gäste Fragen, die uns während des Studiums auch schon bewegt hatten, Fragen nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion. War es die Absicht des Autors, den kommunistischen Widerstand im Konzentrationslager Buchenwald zu heroisieren? Oder wollte er nicht doch die Haltung der gedemütigten Kommunisten legitimieren, die als »Funktionshäftlinge« Lagerfunktionen wie Kapo übernehmen mussten und damit auch an Entscheidungen über Leben und Tod beteiligt waren? Schloss Widerstand nicht auch eine begrenzte Mitarbeit ein?
Beim Wiederlesen dieses Jahrhundertromans in der Ausgabe des Aufbau Verlags finde ich nicht nur auf diese Fragen Antworten. Die Literaturhistorikerin Susanne Hantke und die verdienstvolle Aufbau-Lektorin Angela Drescher haben eine komplett überarbeitete Ausgabe vorgelegt, dabei weitgehend alle Streichungen und Hinzufügungen wieder berücksichtigt. Dabei wird mir bewusst, wie sehr die Häftlinge selbst zu Opfern der SS wurden, indem sie undifferenziert Nazivokabular übernahmen wie »Menschenschrott« und »Ganovenelemente«.
Aus dem umfänglichen Nachwort von Susanne Hantke erfahre ich auch, dass noch kurzfristig eine tragende Figur aus dem Manuskript gestrichen werden musste, weil sie zu sehr an den KPD-Lagerfunktionär Ernst Busse erinnerte, der nach der Befreiung Innenminister in Thüringen wurde und Anfang der 50er Jahre wegen angeblicher Kollaboration mit der SS in Buchenwald spurlos in einem Arbeitslager in der Sowjetunion verschwand.
Auch dass der Vorsitzende des Internationalen Lagerkomitees Walter Bartel, ab 1946 persönlicher Sekretär von Wilhelm Pieck, 1952 wegen eben dieser Anschuldigungen seines Amtes enthoben wurde. Insofern musste Bruno Apitz beim Aufschreiben der Buchenwaldgeschichte schon Kompromisse eingehen und Glättungen hinnehmen.
Auch Abweichungen der Fiktionalisierung von der wahren Geschichte, auf die der Roman basiert, sind interessant. Vorbild für das »Buchenwaldkind« ist Stefan Jerzy Zweig, der mit seinem Vater, einem Krakauer Anwalt, nach Buchenwald kam und im September 1944 nach Auschwitz deportiert werden sollte. Der Vater konnte ihn mit Hilfe kommunistischer Häftlinge verstecken. Bei Apitz wird aus ihm ein jüdisches Waisenkind. Das ist im Sinne der Fiktionalisierung an sich kein Problem. Was allerdings nicht mitgeteilt wird und erst in jüngster Zeit heftig diskutiert wird: um ein Leben zu retten, musste mitunter ein anderes Leben aufgegeben werden. Die Lagerrealität erzwang solche brutalen Entscheidungen. Moralisch unzweifelhaften Heroismus, auch das lehrt die Geschichte von »Nackt unter Wölfen«, ließ sie kaum zu. Auch Imre Kertész und Eli Wiesel gehören zu den Kindern, die vom Internationalen Lagerkomitee gerettet wurden.
Aus dem Nachwort erfährt man viel über die Entstehung des Buches und die prekäre Situation des Autors, der er vor und während des Schreibens ausgesetzt war. Erstmals seit 1946 enthält diese Ausgabe auch Texte, die Apitz 1946 verfasst hatte und die unmittelbar nach dem Überleben in Buchenwald entstanden sind.
Wiederlesen mit neuen Einsichten lohnt sich eben doch. Insofern bin ich Fräulein Schreiber, der Bibliothekarin, auch mehr als fünfzig Jahre später, noch für die Empfehlung dankbar. Und ich schäme mich auch nicht für meine Empfindungen beim ersten Lesen.
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