Die Wiege Olympias

Das englische Dorf Much Wenlock sieht sich als Geburtsort der neuzeitlichen Spiele

Ist das Kunst oder kann das weg? Dieses mannshohe, einäugige Zyklopenwesen namens Wenlock, mit dem Tim King gerade für die deutschen Fotografen vor der Tür des städtischen Olympiamuseums posiert? »Naja, ich brauchte ein bisschen, um mich an unser Olympiamaskottchen von 2012 zu gewöhnen«, sagt der Tourismuschef des kleinen viktorianischen Marktfleckens Much Wenlock. Unübersehbar verlegen blickt er dabei auf das gigantische Marsmännchen in seinem Arm und sucht nach Worten: »Aber sein Name ist doch großartig, oder?«

Wenlock, eines der beiden Maskottchen von London 2012, ist nämlich nach Much Wenlock benannt, dem 2600-Seelen-Ort in den Western Midlands, der sich seit eh und je als Wiege der Olympischen Spiele der Neuzeit ansieht. Zwar hatte davon bisher kaum jemand außerhalb des Königreiches etwas mitbekommen, doch spätestens seitdem London zum dritten Mal nach 1908 und 1948 Olympiastadt wurde, erlangt Much Wenlock nun Weltruhm: »Fernsehteams aus Russland, China und den USA, von überall kommen sie zu uns«, freut sich King. »Und dann drehe ich mit ihnen meine Runde: der Marktplatz an der Highstreet, der Olympiaweg durch Much Wenlock und die Hope Trinity Church mit dem Grab des größten Sohnes der Stadt: Dr. William Penny Brookes.«

William Penny Brookes, seinerzeit Chirurg und Friedensrichter, ersann 1850 die Much-Wenlock-Spiele, die hier seither jährlich stattfinden und - very britisch, very traditional! - auch im Olympiajahr 2012 nicht von ihrem angestammten Termin im Juli abrücken wollten. Sollen sie doch in London am Freitag ihre Olympischen Sommerspiele anfangen und stolz darauf sein, als erste Stadt der Welt Olympia zum dritten Mal auszurichten! Was sind denn drei Mal im Vergleich zu 162 Jahren olympischer Geschichte?

Brookes, der britische Turnvater, hatte dereinst klare Absichten mit den Spielen: Er wollte mit den Wettkämpfen die sportliche Betätigung aller Bevölkerungsschichten fördern - weil er sich sicher war, dass sie dem körperlichen und geistigen Wohle der Einheimischen dienen würde. Die Spiele waren deswegen unbedingt »offen für jedermann«. Es gab Weitsprungwettbewerbe, Läufe über 100 Yards, bei denen fünf Schilling Preisgeld zu gewinnen waren, Cricketball-Weitwurf und »for the ladies« Wettbewerbe im Singen, Nähen und Stricken.

Schon 1855 war die Dorfolympiade zu den »National Olympian Games« mutiert, mit mehreren hundert Startern aus dem ganzen Land. Und William Penny Brookes trieb die Missionarsarbeit in Sachen Leibesertüchtigung weiter voran: Er führte an der Grundschule von Wenlock den Sportunterricht für Jungen und Mädchen ein. Er gründete die »Olympian Class« des Ortes, die 1860 zur »Wenlock Olympian Society« wurde. Ihr Ziel war klar formuliert: »Die Förderung der moralischen, körperlichen und geistigen Weiterentwicklung der Einwohner der Stadt und Umgebung von Wenlock und vor allem der arbeitenden Klassen, durch Erholung an der frischen Luft und durch Vergabe jährlicher Preise für Geschicklichkeit in sportlichen und geistigen Wettbewerben.«

Die Wenlock-Spiele sind bis heute eine Erfolgsgeschichte: Auch 2012 kamen wieder 2000 Sportler aus aller Herren Länder zu den Spielen, die auf dem Sportplatz der Pierre-Coubertin-Schule ausgetragen werden. Einzige Teilnahmevoraussetzung sind die offizielle Meldung und das kleine Startgeld: ein kompletter Gegenentwurf zu dem Milliardenspektakel in London.

Wenlocks olympische Tradition lockt jährlich um die 200 000 Gäste in das verschlafene Nest, das mit seinen urigen Pubs, den umliegenden Schafwiesen und den hübsch verwitterten Fachwerkhäusern aufwarten kann. Und mit dem zwei Kilometer langen »Olympian Trail« (Olympiaweg), der zu allen wichtigen Wirkungsstätten des Dr. Brookes führt: ans »Linden Field«, jene riesige Wiese, wo die ersten Wettbewerbe ausgetragen wurden, zu Brookes ehemaligem Wohnhaus, zur alten Schule und zum Gasthaus »The Raven«, wo sich 1890 das wichtigste olympische Ereignis in der Stadtgeschichte abspielte. Eine Tafel am ehemaligen Bahnhofsgebäude erinnert heute daran, wer hier in jenem Jahr aus dem Zug stieg. Der junge Baron Pierre de Coubertin war nach Much Wenlock gekommen, um den 82-jährigen Brookes kennenzulernen, dessen olympischer Ruf bis nach Frankreich gedrungen war. Es war ein Treffen zweier Brüder im Geiste; nur vier Jahre später sollte Baron de Coubertin das Internationale Olympische Komitee gründen.

Am 30. Mai 2012 erfuhr Much Wenlock erneut olympischen Ruhm: Der olympische Fackellauf führte durch den kleinen Ort, am Grab des Olympiavaters wurde die Flamme sogar zweimal vorbeigetragen. Späte Anerkennung für Dr. William Penny Brookes, der die ersten Olympischen Spiele 1896 in Athen nicht mehr erleben durfte: Er starb drei Monate vor der Eröffnung.

Baron de Coubertin hatte seinen Mentor schon vorher mit Worten geadelt: »Falls die Olympischen Spiele trotzdem wieder aufgenommen werden sollten, dann ist dies keinem Griechen zu verdanken, sondern Dr. W. P. Brookes.« De Coubertin schenkte dem Städtchen Much Wenlock einen Eichenbaum. Dessen Samen sind nun im Olympic Park von London ausgesät worden. Auf dass der Geist von Much Wenlock auch in London wachse und gedeihe.

● Informationen zu Großbritannien-Reisen: Beim britischen Fremdenverkehrsamt im Internet unter www.visitbritain.com

● Much Wenlock im Internet: www.muchwenlockguide.info

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