Den Kitas droht das Chaos
Eine Studie offenbart akuten Personalmangel, der am Ausbau von Kindertagesstätten zweifeln lässt
Fünf Jahre ist es her, dass der Betreuungsanspruch für Kleinkinder beschlossen wurde. Jetzt wird immer deutlicher, dass es bei der Umsetzung dieses Vorhabens bis zum August 2013 hapert. Im Mai musste Familienministerin Kristina Schröder (CDU) eingestehen, dass noch immer rund 130 000 Kita-Plätze fehlen. Um eine Klagewelle abzuwenden, stellte sie günstige Millionenkredite für die Kommunen in Aussicht, um den Kita-Ausbau zu beschleunigen. Nun offenbarte die Bertelsmann Stiftung mit einer Studie, dass nicht nur Räumlichkeiten fehlen, sondern auch qualifizierte Pädagogen. Zwar ist seit 2007 die Zahl der Erzieherinnen um etwa ein Viertel auf bundesweit 440 000 gestiegen, doch fehlen bis zum nächsten Jahr 42 000 Fachkräfte.
Das Bundesfamilienministerium sieht dennoch den Kita-Ausbau auf einem »guten Weg«, wie ein Sprecher der Behörde nach der Vorstellung der Studie am Donnerstag betonte. Norbert Hocke, Vorstandsmitglied der Erziehungsgewerkschaft GEW, spricht dagegen von einer fatalen Entwicklung, die seit Langem abzusehen war. »Man hätte strukturelle Änderungen viel eher einleiten müssen«, kritisiert er. »Erst jetzt werden neue Fachschulen aus dem Boden gestampft.« Vermutlich wird es noch Jahre dauern, bis genügend Erzieher ausgebildet sind.
Angesichts dessen, dass die Politik zwar einen Anspruch auf einen Kita-Platz für unter Dreijährige vereinbart, aber keine verbindlichen Qualitätsstandards beschlossen hat, besteht nun die Gefahr, dass Kita-Gruppen immer größer und Altersgruppen gemischt werden. Aus pädagogischer Sicht wäre dies bedenklich.
Die Politik versucht, solche Szenarien abzuwenden und überlegt, wie im Hauruckverfahren der akute Fachkräftemangel behoben werden kann. Die Bertelsmann Stiftung regte dazu an, diesem Engpass durch mehr Anreiz zur Vollbeschäftigung zu begegnen. Bislang arbeiten annähernd 60 Prozent der Erzieherinnen in Teilzeit, das ist eine sehr hohe Quote. Das Bundesfamilienministerium will nun prüfen, wie vermehrt Vollzeitstellen angeboten werden können. Norbert Hocke hält eine Ausweitung der Arbeitszeit für sinnvoll. »Viele vor allem jüngere Erzieherinnen würden sich eine Verlängerung der Arbeitszeit wünschen. Das hätte auch für die Kinder Vorteile, weil die Bindungen zu den Pädagogen fester werden, wenn sie mit ihnen mehr Zeit verbringen«, erläutert er.
Eine freiwillige Ausweitung der Arbeitszeit findet auch bei den Grünen Zuspruch. »Wir müssen innovativer werden, um den Betreuungsanspruch für unter Dreijährige umzusetzen«, sagt Katja Dörner, familienpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion. Als Übergangslösung befürwortet sie auch eine Ausweitung von Tagesmüttern. Ernst-Dieter Rossmann, für Bildungspolitik bei der SPD zuständig, hält dies für keine Alternative. Tagesmütter seien nicht ausreichend qualifiziert, erklärt er. Sie werden lediglich in einem 160-Stunden-Kurs pädagogisch angelernt. Abwegig sei auch der Vorschlag des Städte- und Gemeindebundes, fehlende Erzieher mit Stellen aus dem Bundesfreiwilligendienst zu füllen.
Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer war im Mai einer der ersten, der den Rechtsanspruch von unter Dreijährigen auf einen Kita-Platz infrage stellte. Seitdem mehren sich die Stimmen, den Stichtag zu verschieben. Seine Parteikollegin Katja Dörner lehnt dies ab. Auch Rossmann will an der Vereinbarung nicht mehr rütteln, gleichwohl er im kommenden Jahr mit einer Klagewelle rechnet.
Ungewiss bleibt, ob ein Festhalten an dem Stichtag zu einem tragbaren Personalschlüssel führt. Laut Bertelsmann Stiftung solle auf drei Kinder eine Fachkraft kommen. Derzeit liegt die Quote im Westen bei 3,8 Kindern, im Osten bei 5,7 Kindern. Dabei könnten vor allem die Bedürfnisse der Jüngsten auf der Strecke bleiben. Ein- oder Zweijährige können noch nicht warten, bis sie an der Reihe sind, um getröstet zu werden oder um etwas zu essen zu bekommen.
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