Hinterm Elektrozaun die ganze Welt
17 000 Athleten und Betreuer bewohnen für drei Wochen das Olympische Dorf. Ein Rundgang
Wer die Wasserspringer im Olympischen Dorf besucht, sieht erst mal Fußball: Kommt man durch die Eingangstür, fällt der Blick sofort auf einen großen Flachbildfernseher, an dem Stephan Feck gerade ein Fußball-Videospiel ausprobiert. FC Barcelona gegen Borussia Dortmund, es steht 2:2. Wasserspringer Feck fläzt mit einem Controller in der Hand auf einem von vier grünen Sitzsäcken. Eine blaue Couch steht an der gegenüberliegenden Wand, dazwischen ist noch Platz für die mobile Massagebank des Physiotherapeuten, auf der Fecks Mannschaftskamerad Patrick Hausding sich gerade die Beine durchkneten lässt. Zwei Türen zu Doppelzimmern, zwei weitere gehen vom angrenzenden Flur ab. In jedem Schlafzimmer stehen zwei Betten, zwei Schränke, zwei Stühle. Dazu zwei Bäder und ein Balkon. Was will der Sportler mehr?
»Klein und fein, alles sehr sauber, in schlichtem Weiß gehalten«, beschreibt Hausding sein Zuhause für die kommenden 17 Tage im Olympischen Dorf in London Stratford. Ihm gefällt's. »Es ist zwar höher gebaut als vor vier Jahren in Peking, aber dadurch sind wir Deutschen alle in einem Haus.« Trotzdem bleibt Olympia selbstredend kein nationales Ereignis. »Sobald ich das Haus verlasse, kommt internationales Flair auf. Da rennt alles rum, was man normalerweise nie sieht. Bis heute hatte ich noch nie etwas von Mikronesien gehört. Aber irgendwo auf der Welt muss es ja liegen. Und auch die haben Olympiastarter. Das ist das Besondere an Olympia«, sagt Hausding.
Der siebenfache Europameister im Wasserspringen kann nicht verstehen, dass ein paar Stars nicht hier wohnen wollen, sondern mehr Luxus im Hotel vorziehen. »Das trifft den olympischen Geist nicht mehr. Man kann doch mal für ein paar Wochen hier wohnen. Es ist alles familiärer und macht viel mehr Spaß als in irgendeinem Hotel, das nichts mit Olympia zu tun hat«, so Hausding.
Neben Feck und Hausding wohnen vier Trainer sowie die Springer Sascha Klein und Martin Wolfram in der Wohnung. Keiner von ihnen kommt auf die Idee, sich die Stadt außerhalb des Aquatics Centers und des Olympischen Dorfes anzusehen. Hausding hat Big Ben, Westminster Abbey und London Eye schon beim Vorbereitungswettkampf im Winter abgegrast. Nun trainieren alle zweimal am Tag und verbringen den Rest mit Videospielen, Essen, Schlafen und Tage vom Kalender Streichen. »Die Nervosität wird mit jedem Tag größer. Aber wir haben nun so lange darauf hin trainiert. Da freuen wir uns auch jeden Tag mehr, dass es endlich losgeht«, sagt Sascha Klein.
Fünf Etagen tiefer liegt das Mannschaftsbüro inklusive eigener Physiotherapieabteilung. Hier massiert ein 30-köpfiges Team um Leiter Klaus Eder tagtäglich Muskeln und Psyche der Sportler. »Wenn die hier ein bis zwei Stunden liegen, wird man zur seelischen Müllkippe der Athleten. Da heißt es nur zuhören und immer mal zustimmen - und natürlich alles für sich behalten«, so Eder.
Eder ist seit 1984 dabei. Ihm reicht in London ein Besuch in der Mensa, um den olympischen Geist wieder zu spüren. Die Eröffnungsfeier reizt ihn dagegen kaum noch. »Ich muss das nicht noch mal haben. Die Athleten gehen vor. Wenn einer ein Zipperlein hat, dann behandele ich ihn lieber hier und schau mir die Feier im Fernsehen an. Oder vom Dach aus im neunten Stock. Da hat man einen tollen Blick über die Wettkampfstätten«, schwärmt der Niederbayer.
Am Nordende des Dorfs, das ausgelastet etwa 17 000 Sportler und Betreuer beherbergen wird, gelangt man zu einem Flachbau, von denen es hier nur wenige gibt. Das gläserne Gebäude mit weißem Wellendach macht jedoch an Weite wett, was es an Höhe verliert. Auf rotem Grund in weißer Schrift steht »Main Dining Hall« über dem Eingang, und fragt man die Athleten nach ihrem Lieblingsort im Dorf, liegt die Mensa meist ganz vorn. Im Innern warten tausende blaue Plastikstühle und mit Holzfolie bezogene Plastikklapptische auf die Athleten. Am Rand der Halle hunderte orangefarbene, grüne, blaue und schwarze Schilder, unter denen hunderte Freiwillige hunderte verschiedene Essen aus der ganzen Welt anbieten. Erstmals ist auch afrikanisches dabei.
Benjamin Weß war trotzdem gerade im McDonalds. »Hier kenn ich mich nun mal aus. Aber ich habe auch nur einen Schokoladenkeks geholt. Der ist eher fürs Herz, und heute ist der letzte Tag, an dem wir so was noch essen dürfen«, sagt der deutsche Hockey-Olympiasieger von Peking 2008, dessen erstes Spiel am Sonntagabend ansteht. »Die Burger isst keiner von uns.« Auch Weß ist begeistert von der Mensa. »Das ist der Platz, an dem man sein muss. Hier treffen sich alle, weil jeder hier essen muss. Es ist spektakulär, all die verschiedenen Sportler zu sehen.«
So transformiert ein Olympiasieger schnell zum Groopie. Weß bittet schon mal einen Star um ein gemeinsames Foto. »Außerdem musste ich mal wieder feststellen, dass es doch sehr viele sehr große Frauen gibt. Das ist für Hockeyspieler ungewohnt.« Soeben hat Weß mit Basketballerinnen zu Mittag gegessen.
Die Mensa ist bei weitem nicht der einzige Ort, an dem sich Athleten aus Surinam, Mikronesien und Deutschland über den Weg laufen. Direkt nebenan trainieren sie gemeinsam im hochmodernen Fitnesscenter. Belgische Hockeyspielerinnen steppen neben brasilianischen Leichtathleten zu Technomusik. Einen Raum weiter stemmen eine Australierin, ein Belgier, eine Chinesin und ein Kubaner nebeneinander schwere Hanteln. Das langweilige Krafttraining als soziale Entdeckungsreise.
Wer nicht mehr schwitzen will, den zieht es zum Globe. 24 Stunden ist das kleine Freizeitcenter am Village Plaza geöffnet. Zwei Australier spielen auf der Wiese davor gerade ein überdimensionales »Vier gewinnt«. »Wir haben versucht, für jeden etwas anzubieten«, sagt Emily Brett: »Billardtische, Videospiele, Kleinkinos, Musikstudio und eine Bühne.« Eine Bar gebe es auch. »Alkohol wird aber nicht ausgeschenkt«, greift die Freiwillige der nächsten - offenbar vorhersehbaren - Journalistenfrage vor.
Nach den Spielen soll das Dorf im verarmten Osten Londons in 2818 neue Wohnungen umgewandelt werden. 1379 davon im Sozialbereich. Dann werden die Wohnungen auch Küchen und Teppiche bekommen, was die Athleten jetzt offenbar nicht so dringend benötigen.
War das Olympische Dorf in Peking noch weitläufiger, was Busfahrten zur Regel machte, besticht das Londoner mit kurzen Wegen, die alle zu Fuß erledigt werden können. Aus der Ferne wirken die Häuser wie eine eintönige Hochhaussiedlung à la Berlin-Marzahn, doch erkennt man bei näherem Hinsehen, dass fast jedes von ihnen einzigartig ist. Hier eine Paneelverkleidung aus Holz, da heller Putz, dort typisch britischer Backsteinbau. Manch ein Balkon ist verglast, ein anderer dagegen vergittert. Nur eins eint sie alle: bunte Nationalflaggen. Die Kubaner lassen eine riesige über fünf Etagen hängen. Die Deutschen haben sogar schwarz-rot-goldene Treppengeländer und Massagebetten. Die mikronesische ist übrigens blau mit weißen Sternen. »Wir sind nicht nur für uns selbst hier«, sagt der brasilianische Volleyballer Bruno Rezende. »Wir repräsentieren hier unser Land. Das ist wichtig für unsere Landsleute zu Hause.« Gepriesen sei die eigene Nation - an dem Ort, wo die Jugend der Welt zusammenkommen soll, um im Wettkampf vereint zu sein.
Zwischen den hohen Bauten ist viel mehr Grün erkennbar als im benachbarten Olympic Park, der bei all den Zelten, Containern und mobilen Tribünen eng und überfüllt wirkt. Im Dorf liegen dagegen Athleten in kleinen Parkanlagen. Nur der über fünf Meter hohe Elektrozaun stört die Idylle. Doch dem brasilianischen Volleyballer ist der Zaun egal, er schleckt sein Eis bei über 30 Grad im Schatten. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich hier in meinen Badelatschen rumlaufen würde. Mir haben vorher alle gesagt, in England regnet es die ganze Zeit«, erzählt Rezende, der seine Jetlag-geröteten Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt. Beim Blick hinauf zu seinem Zimmerfenster fällt eins jedoch auf: Die brasilianische Flagge fehlt. »Ich habe gar keine, muss ich zugeben. Ich hänge dann am Ende der Spiele einfach meine Goldmedaille da hin.«
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