Noch keine Selbstverständlichkeit
Im deutschen Olympiateam gibt es vergleichsweise wenige Sportler mit Migrationshintergrund
Als der Turner Marcel Nguyen zum letzten Mal in London einen wichtigen Wettkampf bestritt, brach sich der Hallensprecher beim Verlesen seines Namens fast die Zunge. Und dabei wählte der Sprecher während der WM 2009 nur die Kurz- und nicht die Langversion: Marcel Van Minh Phuc Long Nguyen. Nun bei den Olympischen Spielen in London wird Nguyen von Journalisten auf viele Themen angesprochen - seine sportlichen Chancen, seine langgezogene Brusttätowierung, seine Beziehung zu den Teamkollegen -, aber über den Hintergrund seines Namens muss er sich kaum äußern.
Nguyen, 24, geboren in München, hat einen vietnamesischen Vater und eine deutsche Mutter. Er war nie in Vietnam, spricht nicht vietnamesisch und erhält trotzdem immer wieder Post aus Südostasien. »Ich fühle mich mehr als Deutscher«, sagt der Sportsoldat. »Zu vier Fünfteln.« Es sind Worte, die Sportfunktionäre gern hören: Nguyen steht nicht wirklich für das Thema Integration, dennoch ist er Symbolfigur für Vielfalt im Sport.
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat verkündet, dass 24 Sportler in London einen Migrationshintergrund haben; bei 392 Athleten entspricht das einem Anteil von sechs Prozent. In der Bundesrepublik haben laut Statistischem Bundesamt etwa 19 Prozent der Bevölkerung Wurzeln außerhalb Deutschlands. Sind die deutschen Athleten kein Spiegelbild ihrer Gesellschaft?
»Im Sport wirkt die soziale Ungleichheit ähnlich wie im Bildungsbereich«, sagt der Sportsoziologe Eike Emrich aus Saarbrücken. »Fußball ist traditionsgemäß ein Arbeitersport, er hat historisch sehr früh einen leichteren Zugang für Menschen mit Migrationshintergrund geboten.«
Laut Sportentwicklungsbericht 2010 liegt die Beteiligung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte im Breitensport bei 9,3 Prozent. Der Bericht, der auf nicht repräsentativen Vereinsangaben basiert, weist ein Gefälle auf. Im Fußball gibt er den Migrationsanteil mit etwa 20 Prozent an, bei den Kanuten mit 7, bei den Schützen mit 5 Prozent. Der Sportsoziologe Silvester Stahl ordnet olympische Sportarten wie Rudern, Reiten oder Hockey eher der bildungsnahen Mittelschicht zu, die Zugangsbarrieren seien allein durch die Kosten bemerkenswert.
»Wir müssen zwischen den Geschlechtern differenzieren«, betont Stahl, der an der Sporthochschule Köln lehrt. »Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund sind in Sportvereinen unterrepräsentiert. In vielen ihrer Herkunftsländer ist die Sportbeteiligung von Frauen keine Selbstverständlichkeit.«
Es gibt andere Beispiele: Das Ringen genießt etwa in der Türkei und in Iran hohe Anerkennung, das wirkt sich auf deutsche Vereine aus. Auch Boxen ist beliebt. Für Michael Vesper, den Generaldirektor des DOSB, sind Vereine an der Basis wichtige Instanzen für Zuwanderer, um Selbstvertrauen, Deutschkenntnisse und Zugehörigkeit zu entwickeln: »Unsere Mannschaft ist viel bunter und vielseitiger geworden als früher. Heute ist Integration fast nichts Besonderes mehr.«
Im aktuellen Olympiakader gibt es keine Sportart, zu der besonders viele Mitglieder mit Migrationshintergrund gehören. Die Biografien sind vielschichtig: Die Tennisspielerin Andrea Petković zog mit ihren Eltern nach der Geburt aus Bosnien-Herzegowina nach Deutschland. Der Schwimmer Dimitri Colupaev kam im sechsten Lebensjahr aus Moldawien. Die Turnerin Oksana Chusovitina bestritt ihre Wettkämpfe lange für Usbekistan, ehe sie 2006 die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt.
»Man sollte darüber nachdenken, wie man in den Funktionärsführungsriegen den Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund angemessen abbildet, um den Zugang von Einwanderern zum Sport zu erleichtern«, schlägt Sportsoziologe Eike Emrich vor. Nach einer Studie der Universität Frankfurt sind weniger als fünf Prozent der erwachsenen Migranten in Sportklubs ehrenamtlich aktiv, sie fehlen Kindern und Jugendlichen als Vorbilder.
Der Migrantenanteil in Deutschland soll Prognosen zufolge noch etwa drei Jahrzehnte wachsen. Künftige Olympiamannschaften werden auf Einwanderer angewiesen sein, um im Medaillenspiegel nicht abzurutschen und Förderung zu verlieren. Generaldirektor Michael Vesper sagt, es sei eine Frage der Zeit, bis der deutsche Fahnenträger bei Olympia eine Einwanderungsgeschichte hat.
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