Nur einer von Tausenden

Wisconsin-Attentäter war als Nazi bekannt / Wachsende Zahl extremistischer Gruppen in den USA

  • Sebastian Moll, New York
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Attentäter, der am Sonntag in einem Sikh-Tempel in Milwaukee ein Blutbad angerichtet hat, sang Lieder über die »weiße Vorherrschaft« und posierte vor Hakenkreuz-Flaggen. Sein Blutbad wirft ein Schlaglicht auf die Neonazi-Szene in den USA, auch weil der Attentäter schon lange unter Beobachtung stand. Einen Grund zum Eingreifen sah man aber nicht - er war nur einer von vielen in der rechten Szene der USA.

Der Anschlag in Milwaukee wäre wohl vermeidbar gewesen. Als Mark Potok erfuhr, was sich am Sonntag in einem Sikh-Tempel zugetragen hatte, war er jedenfalls nicht im Geringsten überrascht. Wade Page, der Mann, der in den Tempel gestürmt war und sechs Menschen wahllos niedergeschossen hatte, war Potok bestens bekannt. »Wir hatten ihn schon seit zehn Jahren auf dem Radar«, sagte der Vorstand des »Southern Poverty Law Center« (SPLC), einer gemeinnützigen Organisation, die rassistische und rechtsextreme Gruppen in den USA überwacht.

Wade Page hatte allerdings dem »Southern Poverty Law Center« die Überwachung nicht eben schwer gemacht. Auf Neonazi-Foren wie »Storm Front« und »Hammerskin« war er regelmäßig präsent und wiegelte zu Hass und Gewalt gegen Afroamerikaner und Homosexuelle auf. Und als Mitglied gleich mehrerer Skinhead-Bands wie »End Apathy« und den »Blue Eyed Devils«, schrie er, für jedermann mit Internetanschluss hörbar, unmissverständliche Texte in das Mikrofon: »Ich werde für meine Rasse und meine Nation kämpfen. Sieg Heil«, war etwa der Text des Liedes »White Victory«, das auf der Internetseite seiner Plattenfirma Label56, stand, bis es am Montag flugs vom Server genommen wurde. In dem Stück »Beating and Kicking« gab er noch eindeutiger seine Absichten bekannt: »Knie nieder, weil wir die Herrenrasse sind«, heißt es da. »Treten und Prügeln, spür' den Hass, Du hast Deine Chance gehabt, aber jetzt ist es zu spät.« Und an anderer Stelle: »Für das Reich zu töten ist mein Job.«

Trotz dieser eindeutigen Botschaften sah das SPLC jedoch keinen Anlass, die Behörden zu verständigen. Als Grund dafür gab Potok einerseits an, dass Page kein Gesetz gebrochen hatte. Noch wesentlich alarmierender ist jedoch die andere Erklärung: »Er war nichts Besonderes. Er war einer von Tausenden.« Die Neonazi Szene in den USA, die am Sonntag in Milwaukee unübersehbar ihre hässliche Fratze gezeigt hat, ist offenbar wesentlich lebendiger und aktiver, als dies gemeinhin angenommen wird. Bislang ging man davon aus, dass der Terror von Rechts in den USA mit einer Serie von Anschlägen Mitte der 90er Jahre einen Höhepunkt erreichte und danach abflaute. 1995 sprengte der Rechtsradikale Timothy McVeigh ein Bürogebäude in Oklahoma City in die Luft und tötete 168 Menschen. In der Folge wurden Dutzende Attentate geplant und teilweise ausgeführt. So wollte der Ku-Klux-Klan 1997 eine Ölraffinerie in die Luft jagen, 1996 lieferte sich ein Commander Pedro der »Aryan Nation« eine Schießerei mit dem FBI. Und auch das Bombenattentat auf die Olympischen Spiele 1996 in Atlanta kam aus Neonazi-Kreisen. Der Attentäter war Mitglied der antisemitischen »Christian Identity«.

Danach verschwanden die Neonazis weitestgehend aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Wie sich nun herausstellt, lag dies jedoch weniger an ihrer verminderten Aktivität, sondern vielmehr daran, dass der Fokus auf die islamistische Terrorgefahr gerichtet wurde. Auf der Internetseite des »Southern Poverty Law Center« finden sich seit 2001 mehr als 70 Fälle geplanter oder durchgeführter rechtsradikaler Terrorakte in den USA - um ein Vielfaches mehr als islamistische Gewalttaten. Erfahrene Sicherheitsexperten sagen deshalb seit Jahren, dass die Gefahr von Rechts größer sei als jene aus der islamistischen Ecke.

»Eine einzige Gruppe, die Hutaree Militia, besitzt mehr Waffen als alle 200 verhafteten muslimischen Extremisten in den vergangenen zehn Jahren zusammen«, sagt Daryl Johnson, ehemaliger Analyst bei der Heimatschutzbehörde, Laut Johnson ist die rechte Gefahr seit 2008 rasant angestiegen - seit der erste schwarze Präsident gewählt wurde und die Einwanderungsdebatte monatelang an oberster Stelle der nationalen Tagesordnung stand. Die Zahl der rechten Organisationen sei nach seiner Erkenntnis von 50 auf 200 angewachsen. Dennoch wurden seither nicht mehr Ressourcen auf die Bekämpfung dieser Gefahr verwandt. Ein entsprechender Bericht, den die Heimatschutzministerin Janet Napolitano 2009 dem Kongress vorlegte, wurde von konservativen Abgeordneten als »fehlgeleitet« abgetan. Die nationale Priorität müsse nach wie vor die Bekämpfung der islamistischen Gefahr sein.

Wade Page war indes schon lange vor 2008 Teil der rechtsradikalen Szene. Er wurde 1998 unehrenhaft aus der Armee entlassen, weil er betrunken zum Dienst erschien. Danach tourte er durch den US-amerikanischen Westen. Eine Zeit lang lebte er als Obdachloser auf den Straßen von Denver. Schließlich ließ er sich in North Carolina nieder, wo er Anschluss an die Szene der Neonazis fand und seine Band »End Apathy« - Schluss mit der Apathie - gründete.

Was ihn schließlich dazu getrieben hat, am Sonntag in Milwaukee ein Massaker anzurichten, ist bislang noch unklar. Nachbarn beschrieben ihn - wie so oft in solchen Fällen - als still und in sich gekehrt. Ein alter Armeekamerad sagte, Page habe zwar oft vom »heiligen Rassenkrieg gesprochen, aber nie so gewirkt, als würde er auch zur Tat schreiten«. Wie sich herausstellte, eine fatale Fehleinschätzung.


Zahlen und Fakten

● Vor vier Jahren gab es laut einer Studie des Southern Poverty Law Centers (SPLC) in den USA 149 militante weiße Organisationen, sogenannte Hassgruppen. 1274 sollen es 2011 bereits gewesen sein. Manche richten sich gegen Homosexuelle, gegen nicht-christliche Religionsgemeinschaften oder gegen die Regierung als solche, doch die meisten haben knallharte rassistische Motive.

● Die rassistische Terrorvereinigung Ku-Klux-Klan wurde 1865 im US-Bundesstaat Tennessee gegründet und greift noch immer gezielt schwarze Kirchengemeinden an. Der Geheimbund zählt heute geschätzt 5000 bis 8000 Mitglieder und knüpfte Kontakte zu Rechtsextremisten im Ausland, darunter auch nach Deutschland.

● Die großen Neonazi-Organisationen der 1980er und 1990er Jahre in den USA wie die »Aryan Nations« oder die »National Alliance« sind mittlerweile in Splittergruppen zerfallen, die sich gegenseitig Konkurrenz machen.

● Immer wieder werden Soldaten oder frühere Militärangehörige in den USA zu Mördern. Erst im Mai erschoss ein ehemaliger Marineinfanterist und früherer Neonazi im Bundesstaat Arizona vier Menschen, darunter ein einjähriges Mädchen. Des 39-Jährige hatte eine Bürgerwehr gegründet. Agenturen/nd

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