Was bleibt? - Bleibt was?
Ein Blick auf die Bücher von Erwin Strittmatter, der vor hundert Jahren geboren wurde
Vor zwanzig Jahren unterstellten Kritiker Strittmatter, dass er vielleicht doch bei den Mächtigen des vergangenen Ländchens um seine Nationalpreise gebuhlt hätte. Er erklärte, wie er zu den Preisen kam und dass der Druck seiner Leser auf die Preisverleiher nicht unerheblich war. - Deshalb müssen Kritiker nicht die Segel streichen, aber was spricht mehr für den Ruhm eines Schriftstellers als die Liebe seiner Leser? Ein seltener Fall von Bücher-Liebe.
25 Auflagen hatte Erwin Strittmatters Roman »Ole Bienkopp« in der DDR, danach noch einmal mehr als ein halbes Dutzend. Die Romantrilogien »Der Wundertäter« und »Der Laden« stehen knapp dahinter, haben hohe sechsstellige Verkaufszahlen. Strittmatters Werk sei kein Fall für den »literarischen Erbe-Notdienst«, schreibt Sylke Kirschnick in dem empfehlenswerten Sammelband, den kurz vor Strittmatters Hundertstem Carsten Gansel und Matthias Braun herausgegeben haben (»Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung«, V&R unipress). Sollte das Werk »einmal kaum noch Beachtung finden, dann gewiss nicht, weil inzwischen öffentlich darüber diskutiert wird, dass der Autor während des Zweiten Weltkriegs als Bataillonsschreiber in einem später der SS zugeordneten Polizei-Gebirgsjägerregiment gedient hatte, sein vermutlich sehr konkretes Wissen über dessen mörderische Einsätze aber weder literarisch noch essayistisch verarbeitet hat«, schreibt die Autorin weiter.
Bei allen Debatten um Strittmatter - seit der Literaturhistoriker Werner Liersch am 8. Juni 2008 in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« publiziert hat, was über Strittmatters Kriegsjahre publiziert werden musste! - scheint der Blick auf sein Werk abhanden gekommen. Es stellt sich aber gegenüber dem heute Hundertjährigen und seinen Büchern die knifflige Frage: Was bleibt? - Bleibt was?
Das beantwortet sich allein schon mit »Ole Bienkopp«, erschienen zuerst im Jahr 1963. Ob der Roman von der Zensur ungeschoren herauskommt oder nicht, hing am seidenen Faden. Und das geschah einem Autor, der kurz zuvor 1. Sekretär des DDR-Schriftstellerverbands gewesen und mehrfach mit wenig der Literatur angemessenen Positionen über Kollegen hergezogen war. Strittmatter hatte sich mehr Eifer gewünscht, den »Bitterfelder Weg« zu gehen. Dass dieser Parteiliteratur-Apostel dann einen Roman vom Format des »Ole Bienkopp« schreibt - das gehört zu den Rätseln ostdeutscher Literaturentwicklung. Es nötigt eine erste Verbeugung vor dem dickschädeligen Schriftsteller Strittmatter ab.
Stellen Sie sich eine Romanfigur vor, die sich noch vor den zwangsweisen Bauernzusammenschlüssen eine Gemeinschaft der Gerechten erträumt und diese auch gründet. Einen Mann, dem die Funktionäre misstrauen (weil diese Losung noch gar nicht ausgegeben worden ist), den sie im Stich lassen und der sich deshalb im wörtlichen Sinn totarbeitet - am Ende stirbt Strittmatters so kühner wie selbstloser Sympathieträger an Entkräftung. Davon, dass Kreissekretär Wunschgetreu um ein Menschenleben verspätet mit dem versprochenen Bagger anrollt, wird Ole nicht wieder lebendig.
Wie Marcel Reich-Ranicki es von Christa Wolfs Hauptfigur aus »Nachdenken über Christa T.« feststellte, kann man, muss man auch Strittmatters Roman lesen: Ole ist gestorben an der DDR der fünfziger Jahre. Die Tragödie begann mit Oles Plänen zu einer Zeit, als in der DDR die kleinen Bauern und Funktionäre immer noch die Segnungen der Bodenreform genossen: Junkerland war, wie versprochen, in Bauernhand gekommen. Aber da lag es nicht immer gut, fand Ole Hansen. Einer hatte viel Bauernverstand, so dass die Ernte überm Soll lag, der andere nicht. So ging Ole den Weg von der Gegenseitigen Bauernhilfe zur Bauernvereinigung »Blühendes Feld«. Aber weder der Bürgermeisterin Frieda Simson noch dem Kreisparteisekretär Wunschgetreu war diese Perspektive von einem Plenum vorgegeben. Als beide Oles Einsatz für das Dorf sabotieren, tritt er aus der Partei aus. Bevor er das Parteibuch »mit zitternder Hand« auf den Tisch legt, gibt es diesen Dialog:
Bienkopp: »Ich habe alles überdacht. Mir deucht, ich such nach vorwärts, nicht nach rückwärts!« Kreissekretär Wunschgetreu: »Was vorwärts und was rückwärts ist, bestimmt, dächt ich, noch immer die Partei. Willst du sie belehren?« Bienkopp zitternd: »Ich stell mir die Partei bescheidener vor, geneigter zuzuhören, was man liebt und fürchtet. Ist die Partei ein selbstgefälliger Gott? Auch ich bin die Partei!« Und dann zieht Wunschgetreu das Totschlagargument gegen jeden Parteikritiker: »Bienkopp hat dem Gegner Fraß gegeben.«
In Strittmatters »Ole Bienkopp« blieb also kein Auge trocken - nicht beim Zensor, nicht beim Leser. Es half auch nichts, dass die Dorf- und Kreisopportunisten den toten Bienkopp posthum zum »Spurmacher« erklärten - tot bleibt tot. Genau das hatte es in der DDR-Literatur nicht zu geben. Zu sterben (oder in den Westen zu gehen wie Sägemüller Julian Ramsch, womit er im Roman so gut wie gestorben war), hatten nur die Feinde, nicht die Sympathie tragenden Helden.
Strittmatter war mit »Ole Bienkopp« nicht plötzlich zum Dissidenten geworden. Das war er Zeit seines Schriftstellerlebens in der DDR nie, auch nicht Teil der Opposition. Er verteidigte, was er geschrieben hatte, mit dem Argument seines Freundes Bertolt Brecht, dem in einer plumpen Debatte um »Mutter Courage« abverlangt wurde, die Courage möge nach dem Tod ihrer Kinder Einsicht in das Wesen des Krieges zeigen. Brecht hatte geantwortet: Es geht nicht um die Einsicht von Bühnenfiguren, sondern um die Einsicht des Zuschauers.
Es gab von Seiten der Literaturaufsicht (das konnte manchmal das gesamte Politbüro sein) verschiedene Maßnahmepläne, wie mit brisanten Manuskripten zu verfahren war: nicht drucken, drucken und nicht rezensieren, drucken und einen Teil der Auflage aufkaufen und verschwinden lassen. »Ole Bienkopp« - das entschieden die begeisterten Leser - wurden dann alle Ehren zuteil: Druck in großer Auflage, öffentliche Debatte (mit Pro und meist bestelltem Contra) und Ritterschlag durch Aufnahme in den erweiterten Schulkanon.
»Ole Bienkopp« war - wie später die drei Bände von »Der Wundertäter« - ein mutiger Roman und - wie später die drei Bände von »Der Laden« - ein großartig geschriebener. Bereits im ersten Satz wird das kleine Blumenau im Kosmos aufgesucht: »Die Erde reist durch den Weltenraum …« Solches Denken über eine gemeinsame Welt, die die Menschen friedlich und mit Einsicht in unteilbare Verantwortung pfleglich zu behandeln haben, findet sich später bei Tschingis Aitmatow. Dabei war Strittmatter alles andere als ein Meister der intellektuellen Reflexion oder gar ein Philosoph, aber dass ein Dorf auf dieser durch den Kosmos reisenden Erde »eine Spore auf der Schale einer faulenden Kartoffel sein kann oder ein Pünktchen Rot an der besonnten Seite eines reifenden Apfels«, das fühlte er sich bestimmt zu sagen. Damit entzieht er Kritikern, die ihn in die Sekte der Heimatdichter abzuschieben versuchten, von Anfang an den Boden.
Im Leser-Urteil - unbestrittener als im Kritiker-Urteil! - steht Erwin Strittmatter sehr sicher als großer deutscher Erzähler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts da! Punktum. Aber man muss ihn auch nicht gleich wegen seiner Landwirtschafts- und Dorferzählungen à la Lewin in »Anna Karenina« als Nachfolger von Lew Tolstoi ausrufen! An Tolstois Anna Karenina reichen die Frauenfiguren in »Ole Bienkopp« nicht heran.
Die Verbeugung vor dem Schriftsteller Strittmatter bleibt, auch wenn Kritisches nicht auszusparen ist. Kitschige Stellen lassen sich finden. Sie passieren nahezu zwangsläufig, weil er in einem wunderbar naiven, manchmal das Märchen streifenden Ton erzählt, ohne Abstand, ohne Reflexion, nicht nur im »Bienkopp«. Im ersten Band von »Der Laden« liest man in der Eingangspassage über den Umzug von Grautscheen nach Bossdom dies: »Wird unser Küchentisch sich erschrecken, wenn er die vielen fremden Leute sieht?« Sätze, die übers poetische Ziel hinausschießen. Aber wie Strittmatter mit staunenswerter Menschenkenntnis das Leben der Kleinen Leute, zu denen er sich Zeit seines Lebens als Schriftsteller auf Schulzenhof zählte, in seiner Erzählkunst aufhebt und in den Kosmos all dessen stellt, was auf dieser Erde geschieht, auf ihr gehofft, gebangt, gelitten, geträumt wird, und dabei ein gültiges Zeitbild ins Vergessen fallender Tage gibt, das kann ihm kein Kritiker bestreiten.
»Ole Bienkopp« bleibt zu würdigen als ein großer Roman der Literatur der DDR, auch wenn das Interesse an diesem Roman mit zunehmender Distanz zum Stoff auslaufen dürfte. Ähnliches wird vermutlich den drei Bänden mit den Wundertaten des Stanislaus Büdner auf seinem Weg vom Bäckergesellen zum Schriftsteller widerfahren. Dagegen steht die Hoffnung, ja vielleicht sogar Erwartung, dass noch einige kommende Lesergenerationen Erwin Strittmatter den Platz im Kanon großer deutscher Erzählkunst für seine Trilogie »Der Laden« freihalten werden. Zum Kanon sollte er gehören, der heute Hundertjährige, der in den drei »Laden«-Bänden mit staunenswerter Fantasie die Nutzlosigkeit der Vergangenheit widerlegt hat. - Das bleibt.
Zum Weiterlesen: Carsten Gansel/ Matthias Braun (Hg.): Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung. V&R Unipress. 408 S., geb., 44,90 €.
Frommer Wunsch
Von Hermann Kant
Als Jungleser verschlang ich dickste Bücher, ohne groß wahrzunehmen, dass die auch Verfasser hatten. Von Franz Treller etwa, dessen Roman »Verwehte Spuren« ich wieder und wieder tief genoss, weiß ich bis heute so gut wie nichts.
Über Erwin Strittmatter hingegen bin ich dank der Biographie von Annette Leo weit genauer im Bilde, als mir lieb sein kann.
Ich denke nicht daran, Genuss und Gewinn, die ich seinem Werk verdanke, zu leugnen. Oder gar die Freundschaft, die uns verband. Aber wenn mich jetzt manchmal Wut und Trauer anfallen, leiste ich mir den frommen Wunsch, ich wäre über die bereichernde, ja beglückende Begegnung mit Lope Kleinermann, Stanislaus Büdner und Esau Matt nicht hinausgekommen.
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