Raus aus den Hinterzimmern

In London beginnen in einer Woche die Paralympics - nicht weit von ihren Wurzeln entfernt

  • Ronny Blaschke, London
  • Lesedauer: 3 Min.
In einer Woche beginnen in London die Paralympics 2012. Dank eines visionären jüdischen Arztes aus Deutschland kehren die Spiele der behinderten Athleten an ihren Ursprung zurück.

Als in London alle über Olympia sprachen, war Rickie Burman schon einen Schritt weiter. Sie macht sich nicht viel aus Sport, den Medaillen, der Show, den Sondersendungen. Das alles ist für sie verzichtbare Unterhaltung. »Wir haben uns vor langer Zeit auf die Paralympics konzentriert«, sagt die Direktorin des Jüdischen Museum in London. »Es gibt kaum ein Sportereignis, das so viel in der Gesellschaft angestoßen hat.«

In einer Woche beginnen die Weltspiele der 4200 Sportler mit Behinderung aus 166 Ländern. Es wird ein großes, buntes Sportfest mit vielen Rekorden, doch die Briten wollen sich auch Zeit zur Erinnerung nehmen - nach mehr als sechzig Jahren kehren die Paralympics zu ihren Wurzeln zurück.

Das Jüdische Museum liegt in einer Seitenstraße in Camden Town, einem lebhaften Viertel im Norden Londons. Rickie Burman geht durch das klimatisierte Foyer und deutet auf vergilbte Fotografien einer Sonderausstellung. Sie will an ein britisches Idol erinnern: Sir Ludwig Guttmann. »Er ist der Vater der Paralympics. Endlich haben wir einen Anlass, seine Geschichte zu erzählen, die viele noch nicht kennen.«

Der deutsche Neurologe Guttmann, Sohn eines jüdischen Gastwirts, gewährte während der Reichspogromnacht sechzig Juden Zuflucht in einer Klinik in Wroclaw. 1939 flüchtete er nach England, mit seiner Frau, zwei Kindern, vierzig Mark in der Tasche. In der Kleinstadt Stoke Mandeville nordwestlich von London revolutionierte er die Behandlung für Querschnittsgelähmte. Sie wurden nicht mehr in Hinterzimmern versteckt, sie erhielten eine Rundumversorgung, ihre Lebenserwartung stieg. Rickie Burman hat viel über Guttmann geforscht. »Guttmann hat schnell erkannt, dass körperliche Herausforderungen für Menschen mit Behinderung wichtig sind. Das wollten ihm viele nicht glauben, doch er beharrte auf seinem Standpunkt.«

Im Herbst 1944 stieß Guttmann auf seinem Krankenhausgang auf Patienten, die in ihren Rollstühlen übers Parkett stürmten und mit Spazierstöcken auf eine Scheibe schlugen. Guttmann spielte mit, so entstand Rollstuhlpolo. Bald darauf trieben viele Patienten Sport. Die Bewegung stärkte ihr Immunsystem, förderte ihr Selbstvertrauen. 1948 organisierte Guttmann im Park des Krankenhauses einen Wettkampf im Bogenschießen für 16 Kriegsversehrte. Die Spiele von Stoke Mandeville begannen Ende Juli 1948 - am selben Tag wie die Olympischen Spiele in London.

»Guttmann hatte eine Vision, an die viele Menschen heute noch nicht glauben: Dass der Sport Menschen mit Behinderung aus aller Welt zusammenführen kann.« Chris Holmes spricht mit Demut über Guttmann. Der ehemalige Schwimmer ist einer der erfolgreichsten Paralympier der britischen Geschichte, nun verantwortet er im Londoner Organisationskomitee die Planungen der Paralympics. »Wir wollen das Vermächtnis von Guttmann 2012 besonders würdigen.«

Die Paralympics in London stellen Rekorde auf: 2,1 von 2,5 Millionen Tickets sind verkauft, 6000 Journalisten werden berichten, alle 55 Sponsoren Olympias unterstützen auch die Paralympics. Die Briten wollen ihre olympische Volksnähe fortsetzen. Die BBC hat Ludwig Guttmann ein Fernsehdrama gewidmet, eines der Olympia-Maskottchen heißt Mandeville. Guttmann starb 1980. Vor wenigen Wochen wurde in der Nähe von Stoke Mandeville eine Bronzestatue von ihm enthüllt. »Höchste Zeit«, sagt Rickie Burman und lächelt zufrieden

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