Chronik eines Pogroms: Montag, 24. August 1992

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 2 Min.

Nach dem Wochenende erfolgt eine Reaktion: Die überbelegte ZASt wird am Montag geräumt, eine Woche verfrüht. Denn dass die Aufnahmestelle zum Ende des Monats verlegt werden sollte, war längst beschlossene Sache. Bis etwa 15 Uhr werden die letzten Asylbewerber aus der ZASt in der Nr. 18 geführt, durch ein johlendes Spalier.

Dennoch erreicht das Pogrom erst an diesem Tag seinen Höhepunkt. Obwohl an diesem Tag auch die Spitzen der Sicherheitsapparate in der Stadt weilen. Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU), Ministerpräsident Berndt Seite (CDU), Olaf von Brevern aus dem Schweriner Innenministerium, MV-Innenminister Lothar Kupfer (CDU), der Rostocker Polizeidirektor Siegfried Kordus und Bundesgrenzschutzinspektor Fredi Hitz konferieren am Nachmittag in der Hansestadt - und beschließen offenbar, dass die Lage unter Kontrolle sei. Schließlich seien die »Asylanten« ja fort.

Dass bereits am Vortag auch der Aufgang der Vietnamesen angegriffen worden war, spielt offenbar keine Rolle. Hatten sich die »Experten« überhaupt einen Überblick verschafft? Ebenso wurde ignoriert, dass die Polizei vor Ort ermüdet war - die Hamburger Einheit etwa, die in der Nacht eingeflogen worden war, hätte Hilfe gebraucht und abgelöst werden müssen. Doch gegen 16 Uhr werden sie informiert, dass es keine weiteren Kräfte gebe - an einem Werktag, kurz nach Abreise des Bundesinnenministers. Der Rostocker Einsatzleiter Jürgen Deckert sagte, er fühle sich politisch »alleine gelassen«.

War gerade dies das Resultat jener ominösen Sitzung, die erst kurz zuvor geendet hatte? Nach der Rudolf Seiters erklärt hatte, das Pogrom zeige nur, wie dringend der Asylparagraf verändert werden müsse? Das wäre ungeheuerlich und wird sich nie beweisen lassen. Viele, die mit den Vorgängen vertraut sind, glauben aber, dass das Pogrom letztlich als (partei-)politisches Fanal zugelassen wurde; etwa Jochen Schmidt, der seinerzeit als Praktikant eines ZDF-Kamerateams im Sonnenblumenhaus war und vor zehn Jahren ein Buch über die Vorfälle geschrieben hat.

Gegen 20 Uhr abends ziehen die erschöpften Hamburger Polizisten ab. Ersetzt werden sie durch 150 Mecklenburger Polizisten. Aber auch diese bekommen gegen 21.30 Uhr den Befehl zum Rückzug. Nun ist das Haus der Vietnamesen schutzlos. Bald beginnt es zu brennen. Über 100 Vietnamesen, darunter Kleinkinder und Schwangere, und ein paar deutsche Unterstützer können sich auf das Dach retten und in einen Nachbaraufgang gelangen. Es ist reines Glück, dass es keine Todesopfer gibt.

Alle Artikel zu 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen finden Sie im nd-Dossier unter: www.nd-aktuell.de/lichtenhagen

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